Neben Lydia Dietschs Bett steht eine gepackte Reisetasche. Darin befinden sich Schlafsachen, Kosmetik, Ohrstöpsel und eine Schlafmaske. "Ich muss nur noch meinen Laptop einpacken", sagt die 25 Jahre alte Flugkurierin, "dann kann's losgehen." Dass sie von jetzt auf gleich zum Flughafen eilen muss, kommt in Hochzeiten ihres Nebenjobs beinahe jede Woche vor. Manchmal klingelt das Telefon mitten in der Nacht und sie muss spätestens in zwei Stunden im Flieger sitzen, um eine wichtige Ware um die Welt zu begleiten.

Der Anruf kommt aus Kelsterbach bei Frankfurt am Main, dort sitzt Lydias Auftraggeber Samedaylogistics. Das Unternehmen erhält circa 3.000 Notfallaufträge im Jahr, meist von Kunden aus der Automobilbranche. Wenn den Produktionsstätten einzelne Teile wie Schrauben, Zigarettenanzünder oder Kabel ausgehen, ist es für die Konzerne günstiger, sie aus anderen Ländern einzufliegen, anstatt die Fahrzeugherstellung zu pausieren.

Lydia ist eine von circa 120 Flugkurieren, die einen solchen Notfalltransport durchführen. Ein Nebenjob, der einen in der Welt rumkommen lässt – aber auch gravierend ins Alltagsleben eingreift.

Gesucht: Flexibilität, Zuverlässigkeit und Sprachkenntnisse

Ob zur TV-Primetime, mitten in der Nacht oder an Feiertagen: In der Zentrale bei Frankfurt am Main sitzen 20 Mitarbeiter im Schichtdienst, um rund um die Uhr das Telefon zu überwachen und Aufträge entgegenzunehmen. Circa 14 Millionen Euro Umsatz macht Samedaylogistics jedes Jahr. Als Flugkurierin – auch On-Board Courier (OBC) – bekommt Lydia zwischen 150 und 500 Euro pro Auftrag, die Höhe ihres Honorars ist abhängig von der Distanz ihrer Reise.

"Als ich mich selbständig gemacht habe, hat mich der Job über Wasser gehalten", erzählt Lydia. Nach ihrer Ausbildung in Köln zog die damals 23-Jährige nach Berlin, um freiberuflich als Grafikdesignerin zu arbeiten. Weil die Auftragslage am Anfang noch nicht so gut war, kam ihr der Flugkurier-Job sehr gelegen. "Ich habe durch Zufall im Fernsehen davon erfahren und noch am gleichen Abend eine Bewerbung geschrieben."

Wer Flugkurier*in werden will, muss kein spezielles Ausbildungsprogramm durchlaufen. Es zählen vor allem Zuverlässigkeit, Flexibilität und Sprachkenntnisse. Lydia spricht Englisch und Französisch, womit sie in den meisten Ländern der Welt gut zurecht kommt. "Chinesisch würde mir allerdings sehr helfen", sagt sie und lacht. "Viele Chinesen können dann doch nicht so gut Englisch, manchmal muss man sich mit Händen und Füßen verständigen."

Auch Visa für unterschiedliche Länder sowie ein hoher Vielfliegerstatus wie etwa der Senator- oder Hon-Status sind bei Lydias Auftraggeber gern gesehen. Mit höherem Status lässt sich mehr Handgepäck mitnehmen, auch an nervigen Warteschlangen kommt man schneller vorbei.

"Man bräuchte für den Job theoretisch nur das Handy"

Nach 34 Jobs zählt Lydias Vielfliegerkonto mehr als 100.000 Meilen. "Es gab Zeiten, da war ich drei-, viermal im Monat weg. Manchmal aber auch nur einmal im Monat." Wie häufig und in welchem Zeitraum sie fliegen möchte, kann Lydia vorab in einem Online-Portal vermerken. Danach gibt es kein Zurück mehr: Wenn der Anruf kommt – egal ob Lydia gerade mit Freund*innen in einer Bar sitzt oder in der Badewanne liegt – muss sie los.

Der Ablauf eines Trips unterscheidet sich selten: ab zum Flughafen, Umschlag mit Dokumenten oder Paket mit Schrauben oder Rohren von einer Kontaktperson entgegennehmen, Ware einchecken, fliegen, Ware abgeben. Wenn der Kunde nicht am Flughafen steht, fährt Lydia die Pakete mit einem Mietwagen zum Ziel. "Ich habe großen Respekt davor, was ich transportiere", sagt Lydia. Aber große Angst, einen Fehler zu machen und die Pakete zu verlieren, habe sie nicht. Nach der Übergabe geht's für ein paar Stunden Schlaf ins Hotel und schließlich wieder zurück nach Hause.

Wo Lydia bereits gewesen ist

Die lilafarbenen Pins markieren längere Aufenthalte, die Punkte zeigen Zwischenlandungen.

Unterwegs muss sich Lydia um nichts kümmern, sämtliche Tickets sind für sie gebucht. "Man bräuchte für den Job theoretisch nur das Handy", sagt Lydia. "Aber ich habe auch immer noch alles ausgedruckt dabei – zur Sicherheit, falls der Akku schlappmacht."

Zwischendurch muss sie Status-SMS verschicken. Die landen automatisch als E-Mail beim Kunden, damit der jederzeit über den Versandstatus seiner Ware Bescheid weiß. "Ansonsten habe ich Zeit, unterwegs mit dem Laptop für meinen eigentlichen Job zu arbeiten", sagt Lydia.

Studierende immer begehrter

Einen Notfallservice führt fast jedes deutsche Logistikunternehmen im Portfolio. Davon gibt es drei Arten: Die Expresslieferung dauert drei Tage, der Flugkurier schafft es innerhalb von 24 Stunden, am schnellsten und teuersten geht's mit einem eigenen Jet, den der Logistiker chartert.

Am beliebtesten sind die Kuriere, weil Personen immer bevorzugt behandelt werden und mit ihrem Gepäck am schnellsten in den Flieger kommen. Doch die wenigsten Logistikunternehmen haben ein ähnlich großes Netzwerk wie Samedaylogistics, was die Frankfurter zu einem der einflussreichsten Unternehmen am Markt macht. Seit dem Start des On-Board-Courier-Services im Jahr 1996 haben sie weltweit 1.000 Flugkuriere im Einsatz, größtenteils Studierende.

Ähnlich gut aufgestellt ist Time Matters, ein Unternehmen der Lufthansa-Gruppe. 2.500 Aufträge kommen hier jährlich rein, darunter auch viele Organtransporte. 150 Medical On-Board Couriers stehen für Time Matters bereit, dabei handelt es sich allerdings nicht um Studierende. Time Matters setzt insbesondere ehemalige Piloten ein.

Doch der Logistiker arbeitet bereits daran, sein Netzwerk aus Studierenden zu erweitern: Vor Kurzem ist eine neue Plattform gestartet, die wie ein Airbnb für Flugkuriere verstärkt junge Leute auf den Job aufmerksam machen soll. Samedaylogistics wiederum will bald eine App starten, auf der sich überall auf der Welt spontan Flugkuriere anbieten können sollen. Mithilfe des Tools wäre es für Studierende einfacher, sich einzelne Flüge für Reisen zu finanzieren.

Freund*innen treffen unter Vorbehalt

So schön es klingt, als Flugkurier durch die Welt zu tingeln, hat der Job auch einen großen Nachteil: Unterwegs herrscht Zeitmangel. Trotzdem schafft Lydia es ab und an, sich ein bisschen umzusehen. In Detroit klapperte sie bei einem längeren Aufenthalt die verlassenen Viertel der Stadt ab, auf Hawaii radelte sie ein wenig die Insel ab. In der Regel heißt das Flugkurier-sein allerdings: schnell hin, schnell wieder weg.

Lydia stört das kein Stück. "Mir reicht es schon, einfach nur andere Luft zu atmen", sagt sie. Als ich nicht fliegen konnte, habe ich's total vermisst. Es gehört mittlerweile zu meinem Alltag dazu." Sie würde sich unterwegs auch nie langweilen. "Inzwischen kenne ich die Abläufe am Flughafen so gut, dass ich die Zeit sehr gut einschätzen und planen kann. Außerdem mag ich es, im Flugzeug zu sitzen. Da oben scheint immer die Sonne."

Schwierig ist es für sie allerdings, den Job, ihre Selbständigkeit und die Freund*innen unter einen Hut zu bekommen. "Ich versuche natürlich, immer bei allem dabei zu sein", sagt sie. "Aber häufig sage ich Freunden nur unter Vorbehalt bei Treffen zu: Ja, ich komme, es kann aber sein, dass ich plötzlich verschwinden muss." An einen Freund ist zurzeit nicht zu denken. "Dafür arbeite ich auch sonst zu viel." Aber immerhin über den Wolken.