Warnung: In diesem Text wird selbstverletzendes Verhalten thematisiert. Das kann für einige Leser*innen erschreckend sein und eine triggernde Wirkung haben.

Ich bin unter Wasser. Kann nicht atmen, drohe zu ertrinken. Bin zu tief gesunken, als dass mir jemand noch helfen könnte. Ich setze die Klinge an. Drücke zu und ziehe. Blitzschnell treibe ich nach oben, die Wasseroberfläche rast auf mich zu. Ich strecke meinen Kopf aus dem Wasser, hole tief Luft und höre auf zu weinen. Der psychische Schmerz ist vorbei. Ich ertrinke nicht, ich bin lebendig. Mir geht es gut. Die ganze Last ist weg. Tausend Steine fallen von meinem Herzen. Das

warme Blut bildet kleine Flüsse auf meiner Haut und fließt herunter. Es tropft auf die Fliesen.

Menschen allen Geschlechts tun es. Sie schneiden sich in die Arme, verbrennen, kratzen, beißen, kneifen sich. Drei Prozent der Bevölkerung gibt an, sich einmalig verletzt zu haben, 0,3 Prozent verletzte sich im vergangenen Jahr mehrmals. Wir sprechen nicht von Patzern, Ungeschicklichkeiten oder Unfällen – wir sprechen von freiwilliger Selbstverletzung.

Nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) ist eine "repetitive (wiederholte) Zerstörung von Körpergewebe, die selbst zugefügt wird, ohne suizidale Absicht unternommen wird und sozial nicht akzeptiert ist", definiert Prof. Dr. Paul Plener, leitender Oberarzt der Uniklinik Ulm das Verhalten.

Verletzt werden oft Unterarme, Oberarme und Oberschenkel, so Prof. Dr. Tina In-Albon, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität Koblenz-Landau. Warum? Das sei am pragmatischsten. Außerdem, sagt Plener, stünde es den Betroffenen bei diesen Körperteilen frei, ob man sie zeigt oder nicht. Verletzungen im Gesicht oder im Dekolleté könnten nicht so einfach versteckt werden.

Die Unfähigkeit, mit Emotionen umzugehen

Warum tun Menschen das? Warum tat ich das? Von außen ist selbstschädigendes Verhalten schwer nachvollziehbar. "Das tut doch weh", entgegnete man mir oft.

Ja, es tut weh. Manchmal. Wenn meine Seele so sehr leidet und ich mir nicht zu helfen weiß, wenn niemand da ist, mit dem ich reden kann, wenn der seelische Schmerz unerträglich wird und ich auf der Stelle irgendetwas tun muss, damit es besser wird – dann fügte ich mir bewusst körperliche Schmerzen zu, um die seelischen zu überdecken. Was bleibt sind hässliche Narben und erschrockene Blicke von Unbeteiligten.

Selbstverletzung sei Emotionsregulation, erklärt Plener. In-Albon schildert: "Für die meisten Betroffenen ist es zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit, mit ihren Emotionen umzugehen. Das heißt, sie haben keine anderen Strategien." Das Problem: Kurzfristig ist das Verhalten effektiv. Der negative Zustand ist erst einmal vorbei. Menschen, die sich regelmäßig selbst verletzen, haben ein reduziertes Schmerzempfinden. Jedoch bildet sich diese Änderung zurück, sobald man mit dem Selbstverletzen wieder aufhört.

Die Emotionen entladen sich, sobald der erste Schnitt gesetzt ist. Überwältigung. Manchmal erwischte ich mich mit einem Lächeln auf den Lippen. Der körperliche Schmerz kommt erst später, wenn die frischen Wunden anfangen zu piksen und zu jucken.

Das Verhalten ist abgeschaut

Ich wünschte mir oft, niemals damit angefangen zu haben. Mit Büroklammern und Sicherheitsnadeln verletzte ich meine Haut oberflächlich. Ich wechselte zur Schere. In der Klinik machten sich die anderen Patient*innen über meine Wunden lustig. Das sei ja gar kein richtiges Ritzen. Sie zeigten mir ihre Methoden. Danach verletzte ich mich hauptsächlich mit einzelnen, steril verpackten Rasierklingen. Die Schnitte wurden von Mal zu Mal tiefer.

In der Schule oder in der Klinik gebe es eine Ansteckungsgefahr, berichtet In-Albon. Jugendliche würden dazu neigen, dort das selbstverletzende Verhalten Gleichaltriger nachzuahmen. Auch im Internet finde man viel unangemessenes Material, was möglicherweise das Verhalten auslösen könnte: Zur Verhinderung der Ansteckung sollten Betroffene frische Wunden nicht zeigen und auch nicht kommunizieren oder dass das Verhalten für sie eine hilfreiche Strategie sei, mit Emotionen umzugehen.

Einmal gelernt, dass Ritzen hilft, fühlt es sich wie eine Sucht an. Ein Laster, das man unmöglich loswerden kann – denkt man. Es entwickelt sich ein Drang, der, wie In-Albon sagt, für viele fast belastender sei als das selbstschädigende Verhalten selbst. Als Abhängigkeitserkrankung wird NSSV aber nicht gesehen. In Deutschland sei NSSV als Symptom anerkannt – beispielsweise bei der Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) – aber noch nicht als eigenständige Erkrankung. Doch nicht jede*r, die*der sich selbst verletzt, habe eine BPS, stellt Plener klar.

Harmlose Ersatzhandlungen finden

Ich schämte mich für mein Verhalten. Meine Wunden bandagierte ich und fand neue Ausreden für die Verbände. Jahrelang trug ich im Sommer langärmlige Oberteile, im Sportunterricht weiße oder hautfarbene Verbände. Irgendwann traute ich mich, die Narben offen zu zeigen.

Oft unterstellte man mir, ich würde nach Aufmerksamkeit suchen. "Aus meiner Sicht ist das das große Stigma, das dem NSSV anhaftet. Das ist sehr bedenklich, weil es für viele eine Barriere bildet, Hilfe in Anspruch zu nehmen", sagt Plener. Der primäre Grund für Selbstverletzung sei Emotionsregulation. Zumal die Mehrzahl der Betroffenen angibt, ihre Narben zu verstecken und sie sich jahrelang im Verbogenen verletzt haben. Das seien klare Argumente gegen die Aufmerksamkeitssuche.

Viele beginnen mit dem Verhalten bereits im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren. Ein Großteil der Jugendlichen, der sich in der Jugend selbstverletzt, hört im Erwachsenenalter wieder auf damit. Es muss kein lebenslanges Phänomen bleiben, von dem man nicht mehr loskommt, klärt Plener auf. Jedoch rückt oft an die Stelle des NSSV ein Alkohol- oder Drogenkonsum.

Wollen Betroffene das gelernte Verhalten ablegen, lernen sie in der Dialektisch-Behavioralen-Therapie (DBT) sogenannte Skills, also Ersatzhandlungen, die anstelle des selbstverletzenden Verhaltens bei Anspannungszuständen angewandt werden. Sie sollen kurzfristig Erleichterung schaffen, statt langfristig zu schaden. Zu den Skills zählen Eiswürfel auf die Haut legen, Ammoniak riechen oder in Chilischoten beißen. Wichtig sei, sich Zeit zu nehmen, die Fertigkeiten zu erlernen, meint Plener. "Man muss neue Strategien ausprobieren und akzeptieren, dass es nicht so gut funktioniert, wie selbstverletzendes Verhalten."

Dinge, die einem helfen könnten, sich von dem Selbstverletzungsdrang abzulenken, kann man in einer sogenannten Skill-Box sammeln, die immer griffbereit steht. In meiner Box waren Ammoniak-Riechstäbchen, Ahoi-Brause, Schokolade, ein Gummiband zum Fletschen und schöne Briefe, die mir Freund*innen zur Aufmunterung geschrieben haben.

Wie andere Menschen reagieren können

Erzählte ich meinen Freund*innen davon, dass ich es mal wieder getan habe, reagierten sie meistens mit Wut und Unverständnis. Mitpatient*innen schlugen mich für meine Unfähigkeit, mit Emotionen umzugehen.

Wer selbstverletzendes Verhalten bei Freund*innen oder Geschwistern bemerkt, sollte nicht schockiert, mit Ablehnung oder Bestrafung reagieren, rät In-Albon. Den jugendlichen Menschen zu akzeptieren, heißt nicht, das Verhalten zu akzeptieren, erklärt sie weiter. Es sei wichtig, sich das Ansprechen zu trauen und eine respektvolle Neugierde zu zeigen, betont Plener. Fragen wie "Wobei hilft dir das?" oder "Warum machst du das?" könnten dafür eine gute Gesprächsöffnung sein. Gespräche mit Freund*innen oder Eltern ersetzen allerdings niemals eine Therapie, die bei NSSV dringend zu empfehlen ist.

Es werde sich zumeist zwar nicht selbstverletzt mit der Absicht einer Selbsttötung, trotzdem sollten, so In-Albon, Betroffene nach Suizidgedanken, -plänen oder -versuchen gefragt werden. "Wichtig auch hier: Das Fragen nach Suizidalität bringt niemanden auf die Idee."

Wie ich es schaffte, vom Ritzen loszukommen

Sechs Jahre lang verletzte ich mich selbst. Einmal angefangen, kam ich nur noch schwer davon los. Es wurde zur Gewohnheit, zum Automatismus. Jeder Schnitt war eine Befreiung. Kurz nachdem die befreiende Wirkung verflogen war, bereute ich mein Verhalten. Immer wieder. Es war wie ein Teufelskreis. Die Motivation, das Verhalten loszuwerden, sollte von innen kommen. Sobald man von außen zum Aufhören gedrängt wird, es selbst aber gar nicht will, bleiben die Erfolge klein.

Ich fasste vor anderthalb Jahren einen Entschluss: Ich möchte damit aufhören. Ich möchte meine Arme in der Öffentlichkeit zeigen können, ich möchte normal Sport treiben können, ohne frische Wunden oder knallrote Narben präsentieren und komische Blicke ernten zu müssen. Ich kaufte mir Bi-Oil, ein Hautöl, das das Erscheinungsbild frischer Narben verbessern sollte. Das Versprechen: Die Narben verblassen durch die Anwendung schneller. Ich rieb meinen Arm jeden Abend mit diesem Öl ein und nach kurzer Zeit waren die ersten Veränderungen sichtbar.

Zeitgleich lud ich mir die App Quitter herunter und dokumentierte damit, wie lange ich schon clean war – so nennt man unter Betroffenen den Zustand, frei von Selbstverletzung zu sein. Meine Freund*innen unterstützten mich bei meinem Vorhaben sehr. Wenn der Selbstverletzungsdrang aufkam, kaufte ich mir manchmal im Affekt Rasierklingen, erzählte meinen Freund*innen davon – und schmiss die Klingen nach deren Aufforderung in den Müll. Ich tat es nicht nur für meine Freund*innen, sondern auch für mich selbst.

Ein ganzes Jahr hielt ich mit diesen Methoden durch. Danach entdeckte ich Ammoniak-Riechstäbchen, die mich durch ihren intensiven Geruch sofort aus extremen Anspannungssituationen holten. Schlagartig fühlte ich mich wieder ganz normal – so, als hätte ich mich selbstverletzt. Der Unterschied: Die Riechstäbchen sind harmlos. Es fließt kein Blut, es entstehen keine Narben.

Betroffene wissen, wie schwer es ist, das Verhalten von jetzt auf gleich abzulegen. Aus eigener Erfahrung kann ich aber sagen: Es ist nicht unmöglich. Wie auch Plener erklärte, legen Jugendliche das selbstverletzende Verhalten im Erwachsenenalter zumeist ab. Sie hören wieder auf damit. Es ist nicht hoffnungslos – auch ihr könnt es schaffen.

Hilfe holen

Fühlst du dich schon länger antriebslos, plagen dich vielleicht sogar Suizidgedanken? Bei der Telefonseelsorge findest du online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen, welche Form der Therapie dir helfen könnte.