59 Länder hat Benjamin Nerding seitdem besucht. Er ist durch die Türkei getrampt und in Marokko durch die Wüste gewandert. Er fand Familienanschluss in Russland und hat sich in Jordanien verliebt – und all das ohne Geld. Wie das funktioniert und was man in vier Jahren Weltreise über fremde Menschen und Kulturen und sich selbst lernt, erzählt er im Interview.

ze.tt: Benjamin, wie kamst du auf die Idee, ohne Geld durch die Welt zu reisen?

Benjamin Nerding: Ich war gerade mit meiner Installateursausbildung fertig, wollte eine Ausbildung bei der Feuerwehr anfangen und hatte dazwischen drei Monate frei. Ich hatte in der Schule nicht gut aufgepasst und konnte kaum Englisch, deshalb wollte ich nur nach Österreich und in die Schweiz reisen und dort in den Alpen wandern gehen.

Ich hatte vor, den ganzen Weg zu wandern, von meiner Haustür aus. Also bin ich losgelaufen, mit Zelt und Rucksack auf dem Rücken. Aber schon nach fünf, sechs Stunden ging mir das alles irgendwie zu langsam, da dachte ich: Ach, versuchst du’s mal per Anhalter. Erst hat mich ein französisches Pärchen mitgenommen, danach bin ich mit einer Belgierin bis nach Zürich gefahren.

Von da an habe ich ständig Leute kennengelernt. Gleich am ersten Tag hat mich jemand zu sich nach Hause eingeladen ... und so ging es weiter. Ich habe viel Couchsurfing genutzt, um Gastgeber zu finden, aber ich habe auch bei Leuten geschlafen, die ich auf dem Weg getroffen habe oder kostenlos in Klöstern. Das Zelt habe ich gar nicht gebraucht, das habe ich irgendwann zurückgeschickt.

Wie wurde aus der Alpen- eine Weltreise?

Nach ein paar Wochen dachte ich, "Ach, jetzt habe ich noch so viel Zeit, jetzt lerne ich Europa kennen". Erst bin ich von Deutschland aus nach Istanbul getrampt, danach nach Skandinavien und anschließend über Frankreich und Spanien nach Marokko.

Was wurde aus deiner Wohnung, deiner Arbeit und deinen Freund*innen zu Hause?

Ich hatte keine Wohnung, ich wohnte noch bei meinen Eltern. Die Ausbildung bei der Feuerwehr habe ich abgesagt. Ich bin vorher viel Triathlon gelaufen und hatte Sponsoren dafür, die habe ich natürlich verloren. Meine Freunde fanden am Anfang ganz cool, was ich mache, aber irgendwann wurde die Verbindung sehr oberflächlich. Inzwischen habe ich nur noch mit einem Freund zu Hause richtig Kontakt.

Was sagen deine Eltern dazu, dass du nie nach Hause kommst?

Meine Eltern haben sich damit abgefunden. Sie sind das schon gewöhnt: Auch mein kleiner Bruder ist viel auf Reisen gegangen. Außerdem haben meine Eltern großes Vertrauen in mich – klar machen sie sich manchmal Sorgen, aber sie wissen, dass ich auf mich aufpassen kann. Nur meine Großeltern vermissen mich an Weihnachten sehr.

Kann man überhaupt tiefe Beziehungen aufbauen und erhalten, wenn man ständig auf dem Sprung ist?

Schwierig. Wenn ich mir über Couchsurfing Gastgeber gesucht habe, dann habe ich jeden Tag bei jemand anderem geschlafen, weil ich niemandem länger als eine Nacht zur Last fallen wollte. Das ist ziemlich viel Stress: Jeden Abend musste ich die gleiche Geschichte erzählen wie am Abend vorher. Und das jeden Tag, jahrelang. Manchmal hätte ich lieber eine Nacht irgendwo draußen in der Wildnis geschlafen, nur um meine Ruhe zu haben.

Wovon überlebst du ohne Geld? Woher zum Beispiel kommt dein Frühstück?

Entweder du hast halt keins oder du bekommst eins bei den Leuten, bei denen du schläfst. Beim Trampen werde ich auch oft eingeladen. Oder ich mache Dumpster Diving, das heißt, ich fische übrig gebliebenes Essen aus Supermarkttonnen. Gerade eben habe ich vier Kilo frischen Fisch gefunden, dazu Ananas, Papaya – wirklich Hunger habe ich nie.

Woraus besteht dein Gepäck?

Am Anfang hatte ich viel zu viele Sachen dabei. Im Moment sind es nur noch elf Kilo. Klamotten kann ich jederzeit finden, ich brauche nichts anzusammeln. Als ich im Winter von Jordanien nach Russland gereist bin, war das erst mal ein Problem – in Russland war es natürlich viel kälter. Aber man trifft so viele Leute, die einem hier mal 'nen Handschuh zustecken und da mal ein Paar Schuhe oder man findet irgendetwas auf der Straße. Ich habe immer alles bekommen, was ich brauchte.

Schreibst du Tagebuch?

Nee. Ich habe auch nie eine Kamera dabei gehabt, und ich bereu's auch nicht. Ich glaube, beim Fotosschießen geht was verloren: Wenn du etwas Schönes erlebst und dann gleich knipst, lebst du nicht wirklich den Moment.

Was machst du, wenn du eine*n Ärzt*in brauchst?

Ich bin auf meinen Reisen nie beim Arzt gewesen. Ich habe mir einfach nie vorstellen können, was passieren könnte, ich glaube, ich denke da ein bisschen anders als viele Leute. Bei den Dingen, die mir passiert sind, all die Beinahe-Unfälle beim Trampen – da hätte eh kein Arzt mehr was machen können. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Leute in manchen Ländern Auto fahren! In Marokko gibt es ganz enge Pfade auf den Bergen – wenn du da 20-30 Zentimeter nach rechts schwenkst, fällst du über den Hang. Und dann kommt dir einer entgegen und keiner von den beiden stoppt. Manchmal fahren die so eng aneinander vorbei, dass der Seitenspiegel abbricht!

Was ist das Wichtigste, was du aus deinen Reisen gelernt hast?

Ich habe festgestellt, dass es sehr wichtig ist, eigene Erfahrungen zu sammeln und nicht einfach dem zu vertrauen, was man hört. In Griechenland haben die Leute mir gesagt: "Griechen und Deutsche, wir sind wie Brüder; es gibt so viele Griechen in Deutschland – aber wenn du in die Türkei fährst, da musst du aufpassen." Und dann reist du in die Türkei und erzählst, dass du als nächstes nach Bulgarien willst und dann sagen die Leute: "Hey, es leben Millionen Türken in Deutschland, wir sind wie Brüder – aber bei den Bulgaren, da musst du wirklich aufpassen!" Und das passiert in jedem Land.

Außerdem beschweren sich die Leute überall. "Hier ist alles so teuer! Die Preise sind gestiegen, aber die Löhne bleiben gleich." Ob das in der Schweiz ist, in Norwegen oder Ägypten, es ist immer das Gleiche. Die einzigen Leute, die sich nicht beklagen, sind diejenigen, die irgendwo in den Bergen in Marokko leben. Also die, die wirklich nichts haben – nicht mal fließendes Wasser.

Was hast du als nächstes vor?

Als ich in Jordanien war, habe ich meine jetzige Freundin kennengelernt, eine Polin, die in Jordanien Arabisch studiert hat. Seitdem reisen wir zusammen. Als nächstes haben wir einen ganz großen Trip geplant: Wir wollen auf einem Schiff anheuern, sodass wir dafür Essen und Überfahrt umsonst bekommen, und nach Südamerika reisen. Von da aus wollen wir mit dem Tandem von Argentinien bis nach Alaska fahren. Ende nächsten Jahres soll es losgehen, vorher wollen wir noch mit dem Tandem von Deutschland nach Irland und durch Island fahren, als kleiner Test.

Fühlst du dich überhaupt noch zu Hause in Deutschland?

Ach, wenn ich mit guten Freunden zusammen bin, fühle ich mich überall zu Hause. Selbst bei manchen Couchsurfern, die ich kaum kannte, habe ich mich gleich zu Hause gefühlt – vor allem in Russland. Nirgendwo anders habe ich so etwas erlebt: In Russland haben mich die Leute aufgenommen, als würde ich zur Familie gehören. Das war schon ein ziemlich spezielles Gefühl.

Ob ich später wieder in Deutschland leben werde – keine Ahnung. Ich sehe viele Nachteile. Ich glaube, im Ausland ist es leichter, einen Job zu finden. In Ländern wie Ägypten musst dich mit weniger abfinden, klar – aber dafür ist es viel leichter, irgendein Business zu starten, weil es da nicht auf die Ausbildung ankommt, sondern nur auf deine Fähigkeiten. In Deutschland kannst du ja nichts machen ohne Ausbildung oder Studium. Ich glaube nicht, dass ich auf den Kopf gefallen bin, nur weil ich Installateur bin – aber in Deutschland interessiert das keine Sau. Was, du bist nur Installateur? Und dann geht’s nicht nach rechts oder nach links, nur über andere Ausbildungen kommt man irgendwie weiter.

Andererseits muss ich sagen, dass ich auch stolz bin, Deutscher zu sein. Vor meiner Reise war mir das ziemlich egal. Aber inzwischen denke ich, in Deutschland sind viele Dinge wirklich gut geregelt – allein die Grundwerte, die man dort in der Schule lernt! Nee, ich habe nichts gegen Deutschland. Nur dort zu leben – das kann ich mir nicht mehr so leicht vorstellen.

Benjamin und seine Freundin Marta berichten seit Frühjahr 2016 auf ihrem Blog von ihren Reisen.