London ist eine unmögliche Stadt. Unmöglich voll, unmöglich laut, unmöglich anstrengend. Aber London hat einen Vorteil: Man kommt von dort in weniger als einer Stunde mit dem Zug nach Brighton. Das Küstenörtchen in East Sussex könnte ein Ommaparadies sein, eine Art Kurort für gestresste Hauptstädter, denen der Fünf-Uhr-Tee in der Hand zittert, weil sie in der Tube fast einen Nervenzusammenbruch hatten. Aber Brighton ist das nicht, sondern eher ein wenig wie das Schanzenviertel Hamburgs oder Berlin-Kreuzberg, hätte man sie genommen und ans Meer gesetzt. Ein Refugium für Alternative, Künstler*innen, Schräge – und im Besitz einer ganz eigenen Graffitikultur.

Brighton ist hip, dabei aber recht leise. Zumindest jetzt, Ende März. Der Strand unweit meines Hotels ist nur spärlich bevölkert, auch wenn es recht warm ist. Der Frühling liegt mit zaghaften Sonnenstrahlen als erste Ahnung über dem berühmten Brighton-Pier. Fast direkt gegenüber meines Hotels liegt eine Gerüstruine nur wenige hundert Meter entfernt im Meer. Ich kenne sie aus unzähligen Albumartworks und Fotografien, wusste aber nicht, dass sie sich hier, in Brighton, befindet. "Das ist der abgebrannte West-Pier. Hat ganz morbiden Charme, oder?" Jacqueline ist Ende 50 und ein sogenannter Greeter. Das sind Einheimische, die als eine Art private*r Stadtführer*in fungieren, für kleine Gruppen oder Einzelpersonen.

Mit ihr schlendere ich entlang des Piers, hoch zum royalen Pavillon, dessen illustre Geschichte sie mir en dé­tail erzählt. Im Grunde war es wohl ein Lusttempel für den exaltierten Prince of Wales, George IV., der Indien liebte und sich eine entsprechend gestaltete Trutzburg für viel zu viel Geld errichten ließ. Heute wäre er mindestens Reality-TV-Star, wenn nicht Schlimmeres. Weiter nördlich an der London Road fällt mir ein Graffito auf, ich stutze: Ist das ein Banksy, sind das die Kissing Coppers? Jacqueline klärt mich auf: "Das ist nur ein Replikat, kein echter Banksy. Aber wenn du an Graffiti interessiert bist, führe ich dich woanders hin." In Brighton bin ich für Graffiti richtig.

Wir wandern in Richtung Westen, durch diverse twittens, kleine Gassen, die mich an die Twieten meiner Heimat Hamburg erinnern, und sich aus dem Wort between herleiten. In den lanes schließlich eröffnet sich ein Paradies für Individuelle. "Hier findest du keinen Starbucks oder irgendwelche großen Ketten", grinst mich Jacqueline an. Ein Indieshop drängt sich an den nächsten, Tee- neben Schuhläden, Afroshops, kleine Restaurants und natürlich Pubs, Pubs, Pubs. Immer wieder sind Regenbogenflaggen zu sehen. "Brighton ist ein Hotspot Englands für die LGBT-Community! Wir haben jedes Jahr eine große Pride-Parade. Da siehst du die verrücktesten Dinge", sagt Jacqueline mit einem Schmunzeln.

Jede einzelne Gasse ist hier bemalt. Selten bis fast nie sind es einfache Tags, also Schriftzüge, sondern meistens murals, großflächige Wandgemälde, oder auch winzige versteckte Details. Superhelden springen aus Fensterrahmen. Pin-ups räkeln sich an Theaterfassaden. Eine riesige Wand zieren Hundegesichter – alle paar Minuten stoppen Touris, um sich und ihre Fifis und Brunos davor abzulichten. Das Werk wurde im Rahmen eines Wettbewerbs beim Brighton Festival gesprayt und verfehlt seine anziehende Wirkung nicht. Dabei werden die Gebäude bald abgerissen, erzählt Jacqueline, zu schade.

Wir stoppen nahe des Hauptbahnhofs Brightons am Prince Albert Pub. An seiner Rückseite, die komplett mit Porträts verschiedener Musiker*innen und Popkulturpersönlichkeiten bemalt ist. Unten, unscheinbar neben dem Müllcontainer, fast versteckt, sind sie dann wieder zu sehen: Banksys Kissing Coppers. Eine Glasscheibe schützt sie, ein Sticker warnt, dies sei kein Twitter-Instagram-Facebook-Hotspot. Ist es das, das echte Werk des Meisters und gehypten Graffiti-Phantoms? Nein, wieder nur eine Replik, das Original wurde entfernt und für stolze 345.000 Pfund verkauft. Das Ding hat eine eigene Odyssee hinter sich, die den Banksy-Hype gut zusammenfasst. Doch gegen all die spektakuläre und vielschichtige Kunst, welche die Nachbildung umgibt, wirkt sie fast unscheinbar. Brighton ist voll von Graffiti, die Stadt scheint den Graffitikünstler*innen zu gehören.

Vom ADHS-Kind zum Auftragssprayer

Zurück in der Lobby des Pelirocco Hotels treffe ich Jason McQuillen. Die weißgrau gefärbten Haare des 30-Jährigen schlängeln sich leicht unter seiner Mütze hervor, seine Finger sind fleckig von schwarzen Farbresten – wie man das auch von einem Graffitikünstler wie ihm erwartet. Der Mann wirkt wie ein freundlicher Punk, wie man sie häufig auf Containern sitzend trifft, mit Dosen an langen Angeln nach Cents von Passanten fischend. Auch wenn er das nicht nötig hat. Seine Armbänder und anderer Kleinkram in seinen Hosentaschen klimpern bei jeder seiner Bewegungen. McQuillen ist born and raised in Brighton, Schulabbrecher und hat eine Friseurlehre, managt einen kleinen Salon in Brighton, den er aber gerade dabei ist, langsam aber sicher abzugeben. Denn er möchte sich bald nur noch über seine Graffitikunst finanzieren.

"Ich habe schon immer alles mit meinen Stiften vollgemalt, ganze Kladden. Meine Mutter hat gezeichnet, daher habe ich es wohl. Ich war ein bisschen ADHS-Kind, also hat das Malen mich ruhiggestellt und beschäftigt. Damals wollte ich zum Beispiel Spiderman so perfekt nachzeichnen wie möglich, hab es aber nicht hinbekommen. Daraus hat sich dann mein eigener Stil entwickelt", erklärt er, auf dem Lobbysofa wippend. Der McQuillen-Stil ist unverkennbar: dicke schwarze Linien, Manga- und Comic-Einflüsse, viel Schwarz-Weiß und wenn, dann knallige Farben. Die Kunstschule schmiss er auch hin, denn es falle ihm schwer, nach Anweisung zu arbeiten.

Nun verziert er nicht nur Straßenwände und Hotels, sondern ist eine der bekannten Konstanten der regen Graffitiszene Brightons. Ich frage ihn, ob es auch Konkurrenz unter den Sprayer*innen gibt. "Die Graffitiszene in Brighton ist sehr speziell. Es gibt ein wenig Verstimmung, weil sich immer mehr Tagger in Brighton verewigen, also Leute, die einfach ihre Schriftzüge irgendwo hinschmieren. Das mögen die anderen, alt eingesessenen Sprayer wie Snub, der sehr aufwendige große Wandgemälde macht, nicht so sehr." Auf Snub hält McQuillen große Stücke, er habe ihm das Sprayen beigebracht und sei eine Institution der Szene. Auch er selbst wird ab und an angefeindet. "Manchmal kriege ich Hatemails auf meinem Instagram-Profil, von anonymen Usern ohne Bilder. Da wird dann gemeckert, ich hätte dies und jenes übergemalt, totaler Bullshit. Ich mache doch meistens nur noch bestellte Auftragsarbeiten", lacht er in seine Kaffeetasse. Trolle eben, darauf muss man nichts geben.

Nun übernachte ich aber eben in einem Hotelzimmer mit einem riesigen Wandgemälde von ihm und stelle ihm die Frage: Ist Graffiti nicht auch irgendwie Punk, wird er nicht als Sell-out bezeichnet für solche Auftragsarbeiten? "Manchmal, ja. Aber ich mache auch viele Charity-Sachen, gebe Kunst für den guten Zweck frei. Und außerdem mache ich ja nicht nur das, ich spraye auch draußen noch. Deswegen lässt man mir das durchgehen, schätze ich."

Die Sprayer*innen Brightons respektieren sich meistens zu einem so hohen Grad, dass es hier eine besondere Regel gebe: "Wenn du ein Wandgemälde siehst, das nicht mehr gut in Schuss oder verschandelt ist, machst du ein Foto davon und darfst es dann komplett übermalen. Falls es Stress gibt, zeigst du das Foto und sagst: Schau, das war sowieso hin! Und dann ist es okay." Die Besitzer*innen der Pubs und Läden lieben die Promotion und Wirkung der aufwendigen Street-Art. McQuillen erzählt sogar von einer alten Ladenbesitzerin, die weinte, weil ihr Lieblingsgraffito übermalt wurde. "Die Leute haben so gerne Fotos davon gemacht!"

Auf das Reizwort Banksy reagiert er derweil nicht negativ. "Ich finde seine Sachen cool. Über eine Exfreundin hatte ich sogar mal Connections zu ihm, hab ihn aber nie getroffen. Er hat auch Hotelzimmer designt, ein ganzes Hotel sogar, glaube ich. Es gab hier ums Eck zwei versteckte Werke von ihm in einem Pub! Die wurden später entdeckt und dann gab es einen riesigen Streit um die Besitzrechte, verrückte Sache." Auf die Frage, ob er auch gerne einen ähnlichen Ruf und solche Berühmtheit hätte, hält er kurz inne und überlegt. "Hm, nein, im Moment nicht." Aber es geht gut voran für den Brightoner, McQuillen verrät mir, dass er das größte Pub auf dem Gelände des Glastonbury-Festivals komplett bemalen und gestalten wird. "Es ist im Grunde eine Art riesiges Kino, ein Gebäude nur für das Festival! Wir werden das komplett designen und danach die Gemälde für Charity versteigern."

In der Zukunft wird McQuillens Kunst jedenfalls noch mehr an Tiefe gewinnen, wortwörtlich, auch in räumlichem Sinne. Von Photoshop hat er zwar keine Ahnung, war aber einer der Tester des kommenden Virtual-Reality-Malprogramms der 3-D-Brille Oculus Rift. "Du stellst es in einem Raum auf und er wird mit Lasern ausgemessen. Dann hast du zwei Pads, auf einem wählst du Pinsel, Farben und so weiter aus, das andere hat Optionen wie Speichern et cetera. Du kannst dich also in 3-D durch den Raum malen, das ist mindblowing, fast wie Tron! Einer der Entwickler meinte zu mir, wenn du das zu viel machst, beeinflusst es sogar deine Träume, denn du bist in einer ganz anderen Ebene. Total crazy!" Allerdings experimentiert er derzeit auch mit … Karotten. "Auf dem richtigen Untergrund ergibt das eine tolle leuchtende Farbe, es muss nur dunkel und rau genug sein. Und es verschwindet wieder, das ist wie temporäre Kunst! Ein riesiger Spaß."

Offenlegung: Dem Autor wurden vom im Text erwähnten Hotel die Übernachtungen gezahlt.