Wir müssen den Schmerz aushalten und akzeptieren, dass wir nicht die richtigen Worte finden, sagt Psychotherapeut Roland Kachler. In unserem Perfektionsdrang hätten wir verlernt, uns dem Schweren und Schwierigen zu stellen. Deshalb leiden wir nicht nur, wenn wir selbst einen Menschen verlieren. Wir leiden auch, wenn unsere Freunde trauern.

Kachler hat seinen Sohn verloren, er weiß, wovon er spricht. Heute schreibt er Bücher über Trauer und darüber, dass wir den Verstorbenen weiter als Teil unseres Lebens betrachten, als jemanden, der uns mit einem liebevollen Lächeln begleitet. Auch, wenn wir weiterleben.
ze.tt: Herr Kachler, was macht man, wenn im Freundeskreis jemand trauert?

Roland Kachler: Man nimmt ihn in die Arme, man hält ihn in seinem Schmerz, man sagt: Du kannst jetzt einfach weinen, ich halte deine Trauer aus. Dafür braucht es schlichtweg den Mut, die Trauer und den Schmerz auszuhalten. Viele sagen: "Wenn du etwas brauchst, melde dich". Das werden Trauernde häufig nicht machen. In den ersten sechs bis acht Wochen nach dem Tod des lieben Menschen bekommt man noch sehr viel Zuwendung. Es ist wichtig, dass wir uns darüber hinaus aktiv melden.
Warum ist das so schwierig?

Wir sind so gepolt, dass alles funktionieren muss, dass alles perfekt klappen muss. Mit Gefühlen, die querstehen zu diesem Anspruch und die uns zu überwältigen drohen, haben wir keine Übung mehr. Und damit, dass bei meinem 20, 25 Jahre alten Freund der Vater stirbt oder der Bruder, damit rechnen wir in unserer perfektionistischen Welt gar nicht. Und wir wissen auch nicht, welche Worte wir dafür finden können oder wie wir mit diesem Gefühl umgehen sollen.
Was ist heute anders als früher?

Die Trauer fällt von außen gar nicht auf, damit fällt auch ein Schutz weg. Wenn heute Eltern ein Kind verlieren, dann kleiden sie sich nicht mehr in Schwarz. Und es gibt wenige spontane Besuche. Man kommt heute nicht mehr einfach vorbei und fragt: "Wie geht es dir mit deinem Schmerz und mit deiner Trauer?"
Wo müssen wir mit der Begleitung von Trauernden hin?

Wir müssen wieder mutiger werden, uns der Trauer und dem Schmerz des Anderen aussetzen. Manchmal auch der Verzweiflung. So geschah es zum Beispiel nach dem Germanwings-Absturz und dem Selbstmord von Robert Enke. Davon können wir lernen. Außerdem sollten wir neue Rituale finden, schon in der Schule. Auf den Tisch des verstorbenen Schülers können wir eine Kerze stellen, gemeinsam sein Grab besuchen. Oder wir richten für den Toten eine Homepage ein. Selbsthilfegruppen, zum Beispiel an der Uni, können helfen. Sie geben uns das, was man früher in der Nachbarschaft und der Kirchengemeinde hatte. Man trifft andere Betroffene, kann sich Zeit für die Trauer nehmen, kann die Trauer teilen und über den Verstorbenen reden.

"Jüngere trauen punktueller, weil ihr Leben so aktiv ist und sie vorwärts drängt."

Trauern junge Menschen anders als ältere?

Jüngere trauen punktueller, weil ihr Leben so aktiv ist und sie vorwärts drängt. Deshalb ist es einerseits wichtig, dass jüngere Menschen sich die Zeit für ihre Trauer auch bewusst nehmen, aber andererseits auch verstehen, dass das Leben sie weitertreibt. Im inneren Gespräch mit dem Verstorbenen müssen wir uns die Erlaubnis holen: Es darf uns wieder gut gehen, wir müssen kein schlechtes Gewissen haben. Es geht dabei nicht darum, den Verstorbenen loszulassen. Es geht darum, ihn im Herzen mitzunehmen, ihn vielleicht als inneren Begleiter zu erleben. Wir müssen eine Balance finden, denn gleichzeitig besteht die Gefahr, dass man sich zu schnell von der Trauer, vom Schmerz und von der Verstorbenen abwendet. Deshalb ist es wichtig, sich in dieser Phase des Lebens klarzumachen: Ich kann nicht alles durchtrauern, wegtrauern. Es kommt vielleicht später nochmal zurück.
Gibt es etwas, das wir von anderen Kulturen lernen können?

Andere Kulturen haben intensivere Rituale. Im jüdischen Kontext trifft man sich sieben Tage lang täglich mit den Trauernden, kocht für sie und ist für sie da. Wir können lernen, Trauer noch mehr in die Gruppe der Freunde und Familie zu nehmen. Wir haben in Europa eine sehr stille Trauerkultur. Aber bei schweren Verlusten steht zunächst der Schmerz, auch der Körperliche im Vordergrund des Erlebens. In nahöstlichen Kulturen wird der Schmerz nach außen geschrien. Also fährt man vielleicht gemeinsam mit dem Auto an einen abgelegenen Ort und schreit dort im Auto seinen Schmerz heraus. Von Japan und fernöstlichen Kulturen können wir uns den Altar oder die Gedenkstätte im Haus abschauen. Da steht ein Bild vom Verstorbenen, eine Kerze, vielleicht etwas vom Verstorbenen. Es geht um die Erinnerungskultur. Wir könnten in der Wohnung eine begrenzte Erinnerungsecke einrichten.

Im ersten Moment ist das ganze Haus die ganze Wohnung vom Verstorbenen erfüllt.

Begrenzt?

Im ersten Moment ist das ganze Haus die ganze Wohnung vom Verstorbenen erfüllt. Viele Bilder hängen dort. Aber es gibt ja auch andere Familienmitglieder, und es gibt Freunde. Hängen im ganzen Haus Bilder der verstorbenen Tochter, wie geht es dann eigentlich dem Bruder damit? Er kann kaum noch atmen. Es geht nicht darum, den Verstorbenen zu verbannen, sondern einen begrenzten Platz, eine Gedenk-Ecke einzurichten.
In den neuen Medien tragen wir unsere Trauer auf andere Art nach außen.

Es gibt jetzt neue Ritualformen, die zeitgemäß sind. Ich sehe da Chancen: Mit dem Trauernden zusammen kann ich eine Homepage gestalten und dort die Gefühle und Gedanken anbringen. Oder wir erinnern uns über Facebook gemeinsam mit Freunden. Wir können uns zum ersten Todestag am Grab treffen oder an den Geburtstag des verstorbenen Freundes denken. Die Gefahr ist aber, dass die direkte Begegnung zu kurz kommt. Jemanden halten, jemanden trösten. Mit jemandem zusammen auch mal weinen. Das kann verloren gehen.
Was hat es mit dem Brauch auf sich, Trauernden etwas zu Essen zu bringen?

Diese Bräuche sind neurobiologisch gut erklärt. Sowohl die Berührung als auch Essen aktivieren unmittelbar unsere Belohnungszentren. Das erzeugt – wenigstens für den Moment – ein angenehmes Gefühl.Wir wissen, dass Berührung und Halten uns als Kind getröstet hat. Gleich, ob wir eine schlechte Note geschrieben oder uns das Knie aufgeschlagen haben. Essen ist auch ein gemeinsamer Akt: Wir teilen diese Suppe, die ich für uns gekocht habe. Wenn ich die Nahrung spüre, dann wirkt das beruhigend, tröstend; das wirkt auf die Sicherheits- und Belohnungszentren des Gehirns. Genauso das Gehalten werden. Es ist auch eine Handlung in einer Situation, in der wir nicht mehr handeln können. Deshalb ist es so wichtig, den anderen an das Grab des Verstorbenen zu begleiten oder am Geburtstag gemeinsam eine Kerze anzuzünden. Alles was ich tun kann – angesichts dessen, dass ich eigentlich nichts tun kann – ist über das Halten und Berühren zu trösten.
Brauchen wir nicht eher Zuspruch?

Trauer und Schmerz sind Körpererfahrungen, der ganze Körper schmerzt, mein Herz ist wie eine Wunde, in meinem Bauch fühlt es sich an, wie ein schwerer Stein, auf meiner Brust liegt ein drückender Felsbrocken, meine Kehle ist zugeschnürt. Das sind alles Körpererfahrungen. Wenn mir da auf der Körperebene jemand zeigt: Ich lasse dich meine Wärme spüren oder meinen Herzschlag, dann tröstet es auf dieser sehr elementaren und fundamentalen Körperebene. Dafür brauche ich nicht die richtigen Worte, die ich vielleicht gar nicht habe. Und ich kann sagen, dass mir angesichts des schweren Verlustes die Worte fehlen, und dass ich dich jetzt in die Arme nehmen und dich halten will.

Mehr steht in Roland Kachlers Buch "Was bei Trauer gut tut".