Es ist 2010 und Laura, 22 Jahre alt, wiegt gerade noch 43 Kilogramm. Die Magersucht schwächt den Köper der Studentin extrem, sie ist am Limit. Obwohl ihr Zustand besorgniserregend ist, möchte sie ihr Studium nicht abbrechen, um sich stationär in einer Klinik behandeln zu lassen.

Die Angst, sich neben all den dünnen, wirklich kranken Mädchen dick zu fühlen, ist zu groß.

Essstörung: eine Krankheit mit vielen Gesichtern

Wie Laura geht es auch vielen anderen Mädchen und Jungen. Essstörungen sind in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Junge oder Mädchen zwischen elf und 17 Jahren an einer Essstörung erkrankt, lag in Deutschland 2006 bei mehr als 20 Prozent.

Die Essstörung kann verschiedene Ausprägungen haben: Viele Betroffene verbieten sich das Essen (Magersucht), manche erbrechen das Gegessene (Bulimie), haben regelmäßig Fressanfälle (Adipositas oder auch Binge-Eating) oder leiden wohlmöglich unter Mischformen der Krankheit.

Die Behandlungsformen von Essstörungen sind vielfältig. Es gibt unter anderem Selbsthilfegruppen, ambulante Therapie oder stationäre Behandlungen in Kliniken oder Krankenhäusern. Die Kosten werden bei einer ärztlichen Diagnose in der Regel von der Krankenkasse, dem Rentenversicherungsträger oder dem Sozialamt getragen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet dazu verschiedene Informationsbroschüren im Netz an.

Lücken in der Therapie

Laura entschied sich damals für eine ambulante Therapie. "Zweimal die Woche ging ich zur Gesprächstherapie und einmal zur Ernährungsberatung. Die Therapie war wichtig für mich. Mein Zustand besserte sich, ich nahm zu. Doch ich war noch meilenweit davon entfernt, mit meinem Körper im Reinen zu sein", sagt sie.

Körperwahrnehmungsstörungen (oder auch Körperschemastörungen) sind ein typisches Symptom für Essstörungen. "Egal wie dünn magersüchtige Menschen sind, sie denken auch noch kurz vor ihrem Tod, dass sie zu dick sind", sagt Laura. Sie selbst fühlte sich auch mit 43 Kilogramm noch zu dick für die Klinik.

Im Januar 2014 meldete sie sich dann zu einem Yoga-Kurs an. Anfangs nur, "um fit zu bleiben". Doch die Yoga-Stunden gaben ihr mehr, als sie vermutete. "Yoga ist mehr als Sport, wie es heute so inflationär genannt wird. Das ist schade, viele reduzieren Yoga nur noch auf körperliche Anstrengung und Fitness", sagt Laura.

Beim Yoga konnte sie sich seit Langem erstmals wieder entspannen. "Ich habe gelernt, dass Körper, Geist und Seele zusammengehören und ein Ganzes ergeben. In der Magersucht habe ich meinen Körper verachtet, mich am liebsten von ihm getrennt. Yoga hat meinen Körper und meine Seele wieder vereint."

Essgestörte hassen ihren Körper – Yoga kann helfen

Weil diese Erkenntnis beim Yoga ein großer Schritt für ihre Genesung bedeutete, entstand die Idee, spezielles Yoga für andere Betroffene anzubieten. "Mir hat Yoga aus meiner Krankheit geholfen. Dieses Geschenk wollte ich anderen weitergeben. Ich bin davon überzeugt, dass Yoga heilsam sein kann", sagt Laura.

Dass Yoga positive Auswirkungen bei Menschen mit Essstörungen hat, bezeugen auch Studien. "In Amerika ist die Therapie mit Yoga schon wesentlich gängiger", erklärt mir Laura. So berichtete das TIME Magazin von einer Studie am Seattle Children’s Hospital, bei welcher therapeutisches Yoga an essgestörten Jugendlichen zwischen elf und 16 Jahren getestet wurde.

Das Ergebnis: Die Wissenschaftler*innen sahen erhebliche Fortschritte bei den Jugendlichen, die zwei Mal pro Woche speziellen Yoga-Unterricht bekamen. Die Forscher*innen vermuten, dass Yoga die Jugendlichen von ihrer obsessiven Sorge um ihr Gewicht ablenkte und sie so entspannte.

Yoga für Alle e.V. und in Kooperation mit freiwilligen Yoga-Lehrenden bietet Laura seit September jeden ersten und dritten Dienstag im Monat Yoga für Essgestörte im Yoga-Studio

Die Yoga-Connection in Hamburg an. Die Vernetzung und Kooperation mit Vereinen wie 

sMUTje e.V. stärken ihr bei diesem Projekt den Rücken.

"Eat Breathe Yoga steht noch in den Startlöchern", sagt Laura. Sie sucht derzeit noch nach Investor*innen und Unterstützer*innen, damit sie einen Yogaraum und die Lehrenden bezahlen, eine Fortbildung für Yoga gegen Essstörungen organisieren und alles professioneller ablaufen kann. Bisher funktioniert noch vieles unentgeltlich und auf freiwilliger Basis.

Yoga für Essgestörte in Hamburg

Mittlerweile kommen im Durchschnitt zwei bis fünf Teilnehmende. "Viele Betroffene trauen sich nicht zu kommen", erklärt mir Ina Janßen, 28, Sozialpädagogin bei sMUTje e.V., die seit mehr als einem Jahr essgestörte Jugendliche berät. "Jugendliche mit Essstörungen haben Angst vor dem Vergleich, vor der sportlichen Herausforderung. Sie fürchten, zu scheitern oder dass andere besser sind, weil sie zum Perfektionismus und zu einer sehr ausgeprägten Disziplin neigen."

Zum heutigen Termin hat Ina eine ihrer Klient*innen mitgebracht. Das Licht ist gedämpft und im Hintergrund läuft leise Musik. "Die Übung muss nicht perfekt aussehen, entspannt euren Rücken und lasst los", sagt Melany mit sanfter Stimme und sechs schmale Frauen auf Yogamatten kommen in die Stellung des Kindes. Melany Biekarck, 33, arbeitet seit 2009 als Yoga-Lehrerin. Seit diesem Herbst unterstützt sie Laura bei Eat Breath Yoga. Dazu musste sie eine spezielle Weiterbildung absolvieren.

Yoga als Therapieform

Obwohl alle drei – Laura als Betroffene, Ina als Sozialpädagogin und Melany als professionelle Yoga-Lehrerin – von dem Konzept Yoga gegen Essstörung überzeugt sind, glauben sie nicht, dass Yoga andere Therapien ersetzen könne. "Yoga eignet sich als ergänzende Therapie, die sich um die körperliche Komponente kümmert. Das fehlt den Betroffenen bei der ambulanten Behandlung oft", weiß Ina aus Erfahrung.

Für Laura bedeutete Yoga, mit ihrem Körper wieder ins Reine zu kommen. Heute absolviert sie selbst eine Yoga-Ausbildung und möchte ihr Projekt in Zukunft sogar auf Berlin und München ausweiten. "Die Resonanz auf das Projekt war sehr gut. Viele Therapie-Praxen, Yoga-Schulen und Lehrende melden sich bei mir, um auch in anderen Städten Yoga für Menschen mit Essstörungen anzubieten."

Ihr langfristiges Ziel ist es, mit Eat Breathe Yoga ein öffentliches Bewusstsein für die Wirksamkeit von Yoga bei Essstörung zu schaffen und Yoga als anerkannte Therapieform zu etablieren.