Elf Menschen starben, an die fünfzig wurden verletzt: Das ist die Bilanz des Anschlages auf die Metro von St. Petersburg.

Laut Geheimdienstinformationen handelt es sich bei dem Täter um einen Russen mit kirgisischen Wurzeln, dem auch Verbindungen zu islamistischen Terrorgruppen nachgesagt werden. Ob diese Vermutungen stimmen, bleibt jedoch noch abzuwarten. Es wird jedenfalls niemand abstreiten können, dass die Menschen von St. Petersburg etwas Furchtbares erlebt haben.

In den vergangenen Jahren hatte die Berliner Landesregierung bei vergleichbaren Anschlägen das Brandenburger Tor in den Farben der jeweiligen Nationalflagge anstrahlen lassen. So geschah es unter anderem für Brüssel, Paris, London, Istanbul und auch Orlando – hier allerdings mit der Regenbogenfahne. Am vergangenen Abend blieb dieses Ritual jedoch aus.

Sofort überschlugen sich die Kommentare in den Sozialen Medien. Bedeutet das, dass der deutschen Regierung die russischen Opfer egal sind? Ist die politische Konfrontation zwischen den EU-Demokratien und der russischen Autokratie stärker als die europäische Solidarität? Oder hat die westliche Propaganda endlich ihr wahres Gesicht gezeigt?

Der Berliner Senat gibt sich bürokratisch

Dass die illuminierende Beileidsbekundung für die Russen ausblieb, verunsicherte offenbar viele. Unter anderem berichteten Deutschlandradio KulturRBBWelt und Zeit Online über das Ausbleiben des Rituals.

Auf Nachfragen antwortete der Berliner Senat, dass das Anstrahlen des Wahrzeichens eine Maßnahme sei, die nur für Partnerstädte Berlins verwendet werde. Die Ausnahmen für die Opfer eines Anschlages in Israel und Orlando begründeten sie mit der angeblichen besonderen Beziehung zu den Städten.

Faktisch ist die Entscheidung, ob das Tor angestrahlt wird oder nicht, also eher eine Herzensangelegenheit und Bauchentscheidung. Damit verstärkt sich der Eindruck, dass es bei solchen Beileidsbekundungen nicht darum geht, dass unschuldige Menschen gestorben sind, sondern darum, wer zum Opfer wurde. Und das ist gefährlich.

Putins Russland

Auch für die Opfer der Anschläge von Québec und Nizza blieb die Bestrahlung des Brandenburger Tors aus. Russland ist aber ein Sonderfall, der politisch höchst brisant werden könnte.

Der schwelende Konflikt zwischen Kreml-Autokratie und Brüssler-Demokratie nimmt seit der Annektierung der Krim bedrohliche Ausmaße an. Inzwischen haben westliche Geheimdienste bestätigt, dass russische Hacker nicht nur aktiv an der Wahl des US-Präsidenten beteiligt waren, sondern auch längst europäische Regierungen infiltrieren.

Gleichzeitig schafft Putin es durch gezieltes Einsetzen staatstreuer Medien auch Anhänger*innen im Ausland um sich zu scharen und rechtskonservativen Faschist*innen eine ideologische Heimat zu geben. So wird er als Retter der freien Meinungsäußerung und Gegner westlicher Propaganda gefeiert, während er im eigenen Land ganz offen die Pressefreiheit untergräbt und im Verdacht steht, die Ermordung unliebsamer Journalist*innen und Regimekritiker*innen in Auftrag gegeben zu haben.

Keine Frage, Putin und die derzeitige russische Politik sind eine Bedrohung für die viel beschworenen europäischen Werte. Die russische Regierung ist aber eben nicht das russische Volk.

Russland gehört zur Familie

Es ist nachvollziehbar, dass der Westen der russischen Autokratie zunehmend kritisch gegenüber steht. Und das sollte er auch. Aber gleichzeitig verpasst die Berliner Regierung hier gerade eine Chance: Sich nämlich mit den russischen Menschen zu solidarisieren – egal, wie sie zu deren Regierung stehen.

Europa ist nicht nur die EU. Es ist ein historischer und gesellschaftlicher Komplex – und zu diesem gehört eben auch Russland. Dass Staatsoberhäupter wie Putin die Unterschiede zwischen uns betonen und beschwören, sollte uns dazu anhalten, sie umso mehr zu feiern. Die Grenzen verlaufen nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Demokrat*innen und Demokratiegegner*innen.

Im Sinne eines europäischen und demokratischen Geistes wären wir schlichtweg verpflichtet gewesen, den zivilen Opfern in St. Petersburg die gleichen Trauerbekundungen zukommen zu lassen, wie unseren Brüdern und Schwestern in Paris, Brüssel, Istanbul oder London. Dass das nicht geschehen ist und auch noch mangelhaft begründet wird, ist für Putin-Anhänger*innen jetzt ein gefundenes Fressen.

Den Rechten das Recht nehmen

Der Berliner Senat spielt den Rechten in die Hände. Sie können die Entscheidung als offene Provokation gegen Russland verkaufen und fühlen sich zudem darin bestärkt, dass der Westen den Russen gegenüber feindlich eingestellt sei. Wir betonen, dass alle Menschen gleich sein und Respekt verdienten und versagen ihn dann den russischen Opfern. Kein Wunder, dass die Rechten sich jetzt in den Sozialen Medien zusammenrotten und Stimmung machen.

Das Brandenburger Tor nicht mit der russischen Flagge anzustrahlen, war ein menschlicher und strategischer Fehler, der die ohnehin angespannte Situation in Deutschland und Europa noch überstrapaziert. Es bleibt zu hoffen, dass der Senat sich in Zukunft strikt an die eigenen Regeln hält. Oder dass Berlin wie die meisten anderen Städte ganz auf die Beleuchtung verzichtet.

Denn sind wir doch mal ehrlich, es gibt so viele Gründe, es einfach sein zu lassen:

1. Das Beleuchten eines Wahrzeichens bringt die Toten nicht zurück und hilft den Überlebenden nicht, die psychischen und physischen Wunden zu heilen.

2. Die Festlegung, wann beleuchtet wird, bringt zudem immer auch eine Hierarchisierung von Opfern nach Nationalitäten, Religion oder Sexualität mit sich.

3. Und am allerwichtigsten: Wenn wir damit aufhören, rauben wir den Rechten ein Thema, über das sie sich nur allzu gern echauffieren.

Ich finde, das sind drei sehr überzeugende Gründe, oder nicht?