Eine Freundin erzählte mir neulich, dass sie zur Hochzeit ihrer Cousine eingeladen sei, in einem Dörfchen in Süddeutschland. "Das ist am Arsch der Welt und ich müsste für Reisekosten, Hotel und Geschenk mindestens 400€ ausgeben. Und dafür ist sie mir einfach nicht wichtig genug", sagte sie.

Doch wie den Kopf elegant aus der Schlinge ziehen, ohne die Cousine zu beleidigen? Mit der Wahrheit? "Auf keinen Fall. Bei sowas sagt doch niemand die Wahrheit – es ist ja wie dem Date ins Gesicht sagen, dass man ihn*sie sich attraktiver und witziger vorgestellt hätte und eigentlich jetzt schon weiß, dass man sich nie wieder melden wird."

Und es stimmt – egal, welchen Lebensbereich man sich anschaut, ob Liebe, Berufswelt oder Freundschaften – niemand sagt die reine Wahrheit. Wir lügen alle, jeden Tag und zu jeder Gelegenheit. In der Liebe, im Beruf, in Freundschaften.

"Es liegt nicht an dir, es liegt an mir"

Wir geben uns sogar richtig Mühe und machen uns extrem viele Gedanken darüber, wie wir anderen Dinge schonend beibringen. Taktvoll. Gefiltert. Aufgehübscht und mit Schleife. "Du bist echt toll, aber im Moment muss ich mich auf mich selbst konzentrieren" statt "Du bist es einfach nicht für mich". "Ja, wir sollten unbedingt mal wieder lunchen gehen" statt "Die Stille am Kaffeeautomaten mit dir ist mir peinlich, deswegen rede ich nur irgendwas, um Geräusche zu machen. Der besagte Lunch wird nie gegessen werden". Die sogenannte interessante Herausforderung, auf die man sich schon freut, bei dem Gespräch mit dem*der Chef*in ist eigentlich unliebsame Extraarbeit, auf und für deren Umsetzung man weder Lust noch Zeit hat, es aber aus Gründen der Hierarchie verpflichtet ist zu tun.

Durchschnittlich lügen wir an die hundertmal am Tag. Und damit meine ich nicht bewusstes Täuschen und etwas erzählen, was überhaupt nicht stimmt, sondern Kleinigkeiten, Halbwahrheiten, Beschönigungen, wie "die neue Frisur steht dir super", "du bist viel zu gut für ihn*sie" und "klar, bereite ich die Präsentation auch am Wochenende gern vor". Und wenn man mal wirklich eine böse Botschaft hat, viel Tänzeln und Bla Bla als Vorspeise, bevor man den unangenehmen Hauptgang serviert. Das ist nicht Lügen mit böser Absicht, sondern das, was man gelernt hat: sich benehmen, rücksichtsvoll sein, niemanden vor den Kopf stoßen, Respekt zeigen.

Doch warum so viel Tanz auf Eierschalen? Sind wir wirklich so höflich den anderen gegenüber? Oder schlicht zu feige? Was würde passieren, wenn wir öfter ehrlich wären? Was wäre, wenn wir plötzlich ganz ungefiltert sagen würden, was Sache ist? Wäre das gut? Würde das unsere Beziehungen verbessern, echter und transparenter machen? Mit dem*der Chef*in ein Arbeitsverhältnis auf Augenhöhe statt ungleichgewichtigem Katzbuckeln schaffen? Oder wäre das ganz furchtbar, weil alles, was wir während der Sozialisation gelernt hätten, plötzlich wackeln und uns um die Ohren fliegen würde? Wenn ich morgens dem Typen mit dem furchtbaren Mundgeruch im Bus statt ihn böse anzugucken einfach ins Gesicht sage, dass er stinkt, ganz ehrlich - wie wär's?

Ohne Lügen funktioniert unsere Gesellschaft nicht

Es gibt tatsächlich jemanden, der das ausprobiert hat: immer ehrlich sein, eine Woche lang. Der US-amerikanische Journalist und Buchautor AJ Jacobs. Er ist für seine unorthodoxen Experimente berühmt: Er hat zum Beispiel mal ein ganzes Jahr lang streng nur nach den Regeln der Bibel gelebt. Oder alle 32 Bände der Encyclopedia Britannica gelesen, um der klügste Mensch der Welt zu werden. Da dürfte es doch ein Klacks sein, eine Woche lang jedem*r nur die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit, oder?Doch Jacobs zog es durch: eine ganze Woche lang kein Einschleimen, keine Diplomatie. "Nein, ich habe keine Lust auf deine Hochzeit, will aber trotzdem, dass du mir eine Einladung schickst". "Ich kann mich an den Namen deiner Freundin nicht erinnern, obwohl ihr seit fünf Jahren zusammen seid". "Du siehst in dem Kleid tatsächlich fett aus" und "dein Geschenk find ich blöd." Er ging sogar soweit, der hübschen Kollegin im schulterfreien Top zu stecken, dass er jetzt versuchen würde, sie ins Bett zu kriegen, wäre er nicht verheiratet. Und seiner Frau gestand er, dass er überhaupt kein Interesse hat, ihre langweilige Geschichte über den kaputten Computer zu hören und sie sogar manchmal hasst. Sieben Tage, unendlich viele verwundete Egos.

Inspiriert für diesen Selbstversuch wurde er von der Bewegung Radical Honest von Brad Blanton, einem US-amerikanischen Bestsellerautor und selbsternanntem truth doctor. Blanton behauptet, dass wenn wir alle aufhören würden zu lügen und immer klipp und klar sagen würden, was wir denken, unser Leben glücklicher und die Welt ein besserer Ort wäre. Große Versprechungen und Aussichten – und Verkaufszahlen für seine Bücher.

Und, konnte Jacobs Blantons vielversprechenden Thesen nach seinem Selbstversuch bestätigen? Oder endete er ohne Job, Freund*innen und Ehefrau, dafür aber mit zwei blauen Augen? Sein Fazit: Ohne Lügen geht’s nicht. Ehen, Beziehungen und Freundschaften würden zerstört, Kündigungsgründe geliefert, ja, er geht sogar soweit zu sagen, dass Regierungen kollabieren würden, wenn wir unsere täglichen kleinen Halbwahrheiten in pure Ehrlichkeit umwandeln würden. Er will nach dem Experiment definitiv wieder lügen – zwar weniger, aber ohne Lügen funktioniere unsere Gesellschaft einfach nicht.

Die Wahrheit macht dich frei, aber vorher macht sie dich fertig“, David Foster Wallace

Wer ungefiltert spricht, ist nicht gnadenlos ehrlich und mutig, sondern wird als unhöflicher Rüpel wahrgenommen. Man schließt ja auch die Tür auf dem Klo, obwohl der dortig verrichtete Vorgang das Natürlichste auf der Welt ist. Zwar konnte Jacobs feststellen, dass manche Gespräche durchaus mehr Wahrheit gut vertragen können – und auch, dass andere plötzlich brutal ehrlich zurückreagieren, wenn man sie mit der nackten Wahrheit konfrontiert –, aber es sei ein extrem schmaler Grat zwischen radikaler Ehrlichkeit und asozialer Gruseligkeit.

Ehrlichkeit befreit zwar zunächst, aber bestraft uns danach

Auch ich habe im Beruflichen sowie im Privaten die Erfahrung gemacht, dass die Wahrheit, einmal ausgesprochen, böse Folgen haben kann – am meisten für einen selbst. Vor einiger Zeit habe ich in einer Werbeagentur gearbeitet, in der ziemlich viel Aufopferungsbereitschaft, Zeit und Herzblut für ziemlich wenig Bruttoarbeitslohn gefordert wurde. Mein damaliger Vorgesetzter hat immer wieder betont, dass wir ja nicht wegen des Geldes jeden Tag zur Arbeit kommen würden, sondern wegen unserer unbändigen Leidenschaft für den Job – er selbst hatte allerdings nichts dagegen, immer den neuesten Porsche zu fahren.

Als ich im jährlichen Feedbackgespräch tatsächlich mal gewagt habe, nach mehr Geld zu fragen, weil ich sehr wohl wegen des Geldes an fünf Tagen in der Woche um sieben Uhr morgens aufstehe, neun Stunden am Tag ohne mich zu bewegen sitze und in eine leuchtende Kiste starre, statt draußen zu spazieren, wurde mein befristeter Vertrag nicht verlängert – "fehlende intrinsische Motivation". Klar, für 1.500 Euro brutto zwölf Stunden am Tag zu arbeiten sollte doch Spaß machen – und Spaß ist doch Grund genug. Wer braucht da schon Geld?

Als ich einer Freundin nach monatelangen Beschwerden ihrerseits über einen Mann, den sie sehr mochte, der aber offensichtlich nicht auf sie stand, gesagt habe, dass ich es einfach leid bin, ihr immer wieder Ratschläge zu geben, die sie über den Haufen schmeißt, und mir das Gejammer nicht mehr anhören will, legte sie beleidigt auf und unser Verhältnis kühlte ab.

Was lernte ich daraus? Das Aussprechen der Wahrheit war in dem Moment zwar befreiend, bestrafte mich aber statt mich weiterzubringen. Ich blieb im ersten Fall zurück ohne Job, im zweiten Fall mit einer sauren Freundin, die über meine Kaltherzigkeit herzog. Die Wahrheit ist, die Wahrheit will nicht nur keiner sagen – es will sie auch keiner hören. Das System des Lügens und Belügens wird ja nicht ohne Grund seit Ewigkeiten so aufrechterhalten und immer weitergepflegt und jede*r abgestraft, die*der versucht, sich zu widersetzen. Das sind die ungeschriebenen Normen im Umgang miteinander, die qua Erziehung, Gruppenverhalten, Gewohnheit und Pfadabhängigkeit immer wieder wiederholt und verstärkt werden, bis sie uns so in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass wir keine anderen Optionen mehr sehen.

Wer sich nicht anpasst, wird aus dem System ausgeschlossen. Wer will das schon? Was hat man denn von angegriffenen Egos, angesäuerten Freund*innen und kopfschüttelnden Chef*innen, die in einem nur noch das Problem sehen und für immer von ihrer Beförderungsliste streichen?

Deswegen werden wir weiter tanzen und schmücken, die Message in hübsche Geschenkboxen verpacken, eine Schleife drum binden und sie erst dann gaaaaanz vorsichtig mit einer vorher sorgfältig ausgetüftelten Choreografie servieren. Oder anders gesagt: taktvollen und respektvollen Umgang miteinander pflegen.

Diplomatie. Feingefühl. Social Skills. Willkommen im Leben.

Unser Autorin hat eine klare Meinung zum Thema. Und du?