Das Selbstmordattentat vergangenen Samstag vor dem Hauptbahnhof in Ankara hat mindestens 97 Menschen das Leben gekostet. Mehr als 500 wurden verletzt. Gewerkschaften, Berufskammer und die Minderheitenpartei HDP hatten an jenem Vormittag zum "Arbeiter-Friedenstag" aufgerufen, um im Rahmen einer Friedenskundgebung auf dem Sihhiye-Platz ein Zeichen gegen Krieg setzen. Ein Krieg, der seit Ende Juli zwischen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK und dem türkischen Staat geführt wird.

Hülya* ist in der Türkei aufgewachsen, hat sechs Jahre in Ankara studiert und lebt seit einigen Jahren in Wien. Etliche ihrer Freunde waren am vergangenen Samstag bei der Friedenskundgebung.
Sind deine Freunde in Ankara okay?
Hülya: Es geht ihnen soweit gut. Niemand wurde verletzt.

Haben sie dir erzählt, wie sie den Anschlag erlebt haben?
Ja, ich telefoniere seit Samstag täglich mit ihnen. Sie haben erzählt, dass die Leute gerade begonnen hatten, sich am Platz vor dem Bahnhof zu versammeln, als sie plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall hörten. Ein zweiter, nicht so lauter Knall folgte unmittelbar. Danach ist sofort Chaos ausgebrochen. Die Leute haben versucht, in alle Richtungen wegzulaufen. Ein Freund von mir hat später gesagt, er hätte es beinahe nicht geschafft, weil der Boden von dem vielen Blut so rutschig war. Generell haben sie alle von viel Blut gesprochen.

Gab es Polizei vor Ort?
Ich war selbst schon oft bei solchen Demos in Ankara. Normalerweise sind immer hunderte Polizisten vor dem Bahnhof stationiert, um etwaige Ausschreitungen zu verhindern. Aber an diesem Samstag waren es weit weniger und sie waren weiter entfernt. Die Leute, die weglaufen wollten, wurden später dann teilweise sogar von der Polizei blockiert. Es gibt viele Videos, die zeigen, dass die Polizei ziemlich gewaltsam gegen die panischen Demonstranten vorgegangen ist

und sogar die Rettungswagen blockiert wurden.

Diese Aufnahme zeigt die Gewalt, mit der die Polizei gegen Demonstranten vorgeht: 

Das klingt so, als hätte die Polizei vorher schon von dem Anschlag gewusst
Der Bahnhof liegt prinzipiell an einer sehr sicheren Stelle der Stadt, umgeben von der Türkischen Zentralbank, der Oper und Gerichtsgebäuden. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Polizei und die Behörden nichts davon gewusst haben und zufällig so weit weg standen. Auch deren Reaktionen waren nicht willkürlich. Zumindest haben sie sich nicht genügend um entsprechende Sicherheitsmaßnahmen gekümmert, so, wie sie es sonst auch tun. Der einzige Grund, warum es meine Freunde doch irgendwann geschafft haben, da rauszukommen, war, dass die Rettungsfahrzeuge am Tatort angekommen sind und die Polizei den Weg irgendwann öffnen musste.

Das klingt ein bisschen nach Verschwörungserzählung
Es klingt danach, weil es so unglaublich ist. Meiner Meinung nach ist das alles Kalkül der Regierung. Dieses Chaos, die Wut und die Polarisierung ist genau das, was die Regierung möchte. In knappen drei Wochen sind Neuwahlen und Erdoğan sagt jetzt Dinge wie: "Wenn ihr wollt, dass so etwas nicht mehr passiert, müsst ihr mich wiederwählen" oder umgekehrt "Wenn wir nicht noch einmal die Mehrheit im Parlament bekommen, wird so etwas nochmal passieren". Das klingt doch schon wie eine Drohung. Wenn er sagt, wir können nur Frieden haben, wenn er es der Bevölkerung erlaubt, dann schürt er damit die Angst der Leute.

Demonstrieren deswegen so viele gegen Erdoğan? Weil sie ihm genau das vorwerfen?

Die Leute wollen ganz einfach Frieden. Es gibt jeden Tag Anschläge im Osten des Landes. Jeden Tag tötet die Polizei dort Menschen auf der Straße. Das weiß jeder und keiner spricht darüber. Und jetzt die Anschläge in Ankara. Die Leute haben die Schnauze voll. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der Erdoğans Versprechen glaubt und seine Partei auch wieder wählen wird. Ganz nach dem Motto: "Besser eine konservative Regierung als Terrorismus." Und dann gibt es jene Menschen – und da gehöre ich dazu – die Erdoğan abwählen möchten, weil sie nicht auf seine Propaganda reinfallen.
Wie wird es deiner Meinung nach in den nächsten Tagen weitergehen?
In ein paar Tagen werden die Behörden sagen, dass sie den oder die Verantwortlichen gefunden haben. Ich bin mir sicher, dass es jemand vom IS sein wird und das ganze Thema für den Wahlkampf ausgeschlachtet werden wird.

Wie geht die Bevölkerung mit solchen Attentaten um?

Ganz ehrlich, man ist solche Sachen in der Türkei gewohnt, weil es andauernd passiert. Jeden Monat sterben entweder Zivilisten oder Aktivisten. Das schockiert uns traurigerweise irgendwie nicht mehr. Im Gegenteil: Die Menschen haben es dieses Mal wahrscheinlich sogar kommen sehen. Selbst die Veranstalter meinten im Vorfeld der Kundgebung, dass es eventuell zu Sicherheitsproblem kommen könne und dass die teilnehmenden Leute sich nicht in der Nähe von verdächtig aussehenden Personen aufhalten sollen.

Dieses Video zeigt die erste Explosion: 

Das bedeutet, die Leute sind abgestumpft?

Allein heute Morgen wurden drei Personen in Diyarbakir von der Polizei erschossen. Genauso wie ein dreijähriger Junge, der auf dem Balkon vor seinem Haus saß, um bei einer Gedenkfeier in Adana zuzusehen. Das sind alleine heute vier Menschen. Und es ist nicht einmal ungewöhnlich für mich. Das Land weiß es, die Medien berichten darüber. Aber es passiert so viel auf einmal, dass sich die Schlagzeilen nicht halten können. Es gibt keine News mehr, sondern einfach nur Chroniken.
Wie hast du persönlich auf die Nachricht von Samstag reagiert?
Ich persönlich bin natürlich sehr traurig, weil ich genauso unter den Opfern hätte sein können. Wenn ich am Samstag in Ankara gewesen wäre, wäre ich 100%ig zu der Demo gegangen. Ich habe dort sechs Jahre lang studiert – alle meine Freunde waren dabei. Es gibt ja auch diese Redensart, die unter den Studenten weit verbreitet ist: "Wir sind nur am Leben, weil sie uns noch nicht getötet haben."

Wer ist mit "sie" gemeint?

Die Regierung, die Polizei, das Militär ... wer auch immer die Macht dazu hat. Eine andere bekannte Redensart lautet: "Das Leben ist willkürlich. In Europa sterben Menschen durch Zufall – wir überleben durch Zufall."

*Name von der Redaktion geändert.