Keine Ahnung, woher es plötzlich kam. Mir war es vorher gar nicht aufgefallen, aber jetzt konnte ich an nichts anderes mehr denken. Das Gefühl war so überwältigend, Flucht schien mir die einzige Möglichkeit. Ich sammelte fix meine Sachen zusammen, haspelte irgendeine Entschuldigung und floh aus seiner Wohnung. Auf der Straße zog ich mein Telefon aus der Tasche und schrieb meiner Freundin L.: "Ich kann C. nie wiedersehen. Wegen seiner Zehen."

Diese Zehen und ich? Nicht in diesem Leben!

Dabei begann eigentlich alles ganz vielversprechend. C. und ich kannten uns zwar erst kurz, aber er erfüllte so viele Kriterien, dass ich ihn schon fest als meinen Sommermann eingeplant hatte. Und es war März.

Doch nach zwei Wochen war es dann vorbei. Kurz vor meiner Flucht saßen wir bei ihm auf dem Sofa und schauten fern. Er zog die Knie an und stellte die Füße auf die Sofakante. C. trug keine Socken und so konnte ich es aus nächster Nähe sehen. Seine Zehen. Seine krummen, großen Zehen. Mit den viel zu kurzen Nägeln.

Die Vorstellung, dass mir dieser Zeh irgendwie nah kommen würde, sich gar unter derselben Bettdecke aufhalten könnte, wie meine Zehen, war mir auf einmal so zuwider, dass ich nur eines wusste: Ich muss weg. Diese Zehen und ich? Nicht in diesem Leben.

Es sind die Kleinigkeiten, die nerven

Kurze Zeit später beratschlagte ich mit L. mein Problem und konnte beruhigt feststellen, dass ich mit meinem komischen Gefühl nicht alleine bin. Denn L. hatte bereits ganz ähnliches erlebt. Sie war nach einer heißen Nacht morgens bei jemandem aufgewacht, der bei Tageslicht betrachtet sehr fleischige Ohrläppchen hatte. Sie vergaß vor lauter Schreck sogar ihren BH.

Nachdem ich zwei weitere solcher Erlebnisse von Bekannten gehört hatte, war klar: Es handelt sich um ein "Ding". Und nach ein wenig Internet-Recherche hatte ich auch den Namen gefunden: Sudden Repulsion Syndrome, SRS (in etwa: Plötzliches Ekel-Syndrom).

Im "urban dictionary" heißt es dazu: "Die Person ist höchstwahrscheinlich höflich, nett und angenehm, aber eines Tages wirst du plötzlich von ihr*ihm abgestoßen. Du kannst dir nicht vorstellen, jemals [in meinem Falle wieder] mit dieser Person intim zu werden und wenn du doch daran denkst, musst du ein wenig brechen. Die Konsequenz von SRS ist, dass du es sofort beendest."

Diese Definition trifft ziemlich genau auf die Geschichten zu, die ich gehört hatte. Es ging jedes Mal um nichts Gravierendes, sondern nur um Kleinigkeiten, meistens sogar einfach körperliche Kleinigkeiten. Wie jemand mit den Nägeln schnippst, die Nase hochzieht, die Kniescheiben runzelt.

Kleinigkeiten zwar, aber mit dem Potential einen wahnsinnig zu machen. In einem Artikel über SRS beschreibt es die amerikanische Sex-Bloggerin Karley Sciortino so: "Du bemerkst das Geräusch, wenn er an seinem Nagel kaut und du kannst es nie mehr nicht bemerken."

Eine Art Ekel-Reflex des verliebten Gehirns

Interessant dabei ist, dass es eigentlich nie um wirklich relevante Dinge geht, wie politische Gesinnung, Unhöflichkeit gegenüber Mitmenschen oder falscher Fußballverein. Sondern eben um eigentlich total egale Kinkerlitzchen. Aber warum versetzen uns solche Kleinigkeiten so in Panik? Sind es vorauseilende Abwehrmechanismen unserer angeblichen Beziehungsunfähigkeit oder schlicht der Offenbarungseid unserer Obsession mit Oberflächlichkeiten?

Sciortino schlägt in ihrem Artikel vor, dass es etwas mit neurologischen Effekten zu tun haben könnte. Erste Verliebtheit ließe sich mit OCD, einer Zwangsstörung, vergleichen. Und da OCD-Patient*innen mehr dazu neigten, Ekel zu entwickeln, könnte man SRS als eine Art Ekel-Reflex des verliebten Hirns betrachten.

Aber wie ernst sollen wir diesen Reflex nehmen? Oder sollten wir ihn dann nicht besser ignorieren? Wissenschaftliche Studien oder gar eine psychologische Klassifikation von SRS gibt es - noch - nicht.

Vielleicht lohnt es sich aber, sich Ekel als Gefühl noch einmal genauer anzuschauen. Die Empfindung von Ekel soll dazu dienen, uns vor ungenießbaren Nahrungsmitteln oder Krankheiten zu schützen – in dieser Theorie funktioniert Ekel als evolutionstechnische Abwehrreaktion.

Könnte also der Beziehungs-Ekel eine Art Schutz vor der betreffenden Person sein? Ein evolutionäres Geschenk an Singles? "Vielleicht können wir dann in 5.000 Jahren ‘the one’ mit Hilfe unserer super-entwickelten Sinne einfach erschnüffeln, wie die Bären", schlägt das "Phillymag" vor. Klingt praktisch.

SRS und Tschüss?!

Aber ist SRS wirklich ein zuverlässiges Signal dafür, dass ein Mensch romantisch nicht zu uns passt? Ich fürchte schon. Denn was die vielen SRS-Geschichten, die ich gehört habe ebenso eint, ist das Zugeständnis, dass es auch an anderen Aspekten gehapert hat. Die SRS-Attacke war in vielen Fällen nur das nicht mehr zu ignorierende und überdeutliche Warnsignal.

Ok, wir müssen nicht sofort Reißaus nehmen. Aber wenn klar wird, dass uns der Ekel fest im Griff hat und nicht mehr loslässt, wird es wohl Zeit, Abschied zu nehmen. Denn unterdrückte Gefühle haben die Angewohnheit, sich in den ungünstigsten und unpassendsten Situationen Bahn zu brechen. Und wie soll eine Beziehung funktionieren, in der man jemandem irgendwann die Größe seiner Ohrläppchen zum Vorwurf macht?!