Draußen fallen Schüsse ... Kann das sein? Ich schaue aus dem Fenster meiner winzigen Pariser Einzimmerwohnung in den Hinterhof – alles ist dunkel. Dann hektische Schritte im Treppenhaus. Ich verriegele die Tür von innen. Dann höre ich wieder Schüsse, diesmal sehr nah, unten auf der Straße – sie stammen ganz sicher aus einem Maschinengewehr, blechern, beinah unecht, das Geräusch kenne ich bisher nur aus Filmen.

Im Herbst letzten Jahres habe ich für ein Semester in Paris studiert – Politikwissenschaft, Schwerpunkt Terrorismus – und wohnte schräg gegenüber vom Bataclan, etwa 50 Meter davon entfernt, in der Rue de la Folie Méricourt. Durch einen Zufall war ich an diesem Freitagabend des 13. November zuhause. Die Explosionen ein paar Minuten zuvor hatte ich für Feuerwerk gehalten.

Ich werde unruhig, will es nicht glauben und suche im Netz: keine Informationen. Dann tröpfeln die Nachrichten ein. Die Tatsache, dass in der Nachbarschaft 30 Menschen im Café und auf der Straße erschossen wurden, nehme ich nicht wirklich wahr. Ich lese, dass in diesem Moment 50 Meter von mir entfernt Terroristen Menschen bei einem Konzert ermorden. Mir wird übel. Irgendwann höre ich zwei Detonationen, später weiß ich, dass das die Sprengstoffwesten der Attentäter waren.

Es wird eine Ausgangssperre verhängt, Hubschrauber kreisen tief über dem Haus – und ich bekomme Angst, eine unkontrollierbare, drückende Angst. Am nächsten Tag ist es gespenstisch still in Paris. Die Sonne scheint viel zu grell. Ich gehe nicht aus dem Haus, esse nicht, schlafe nicht. Insgesamt wurden 132 Menschen getötet, das übersteigt meine Vorstellungskraft. Viele Stunden später bin ich geschockt, kann aber noch immer nicht trauern – und mache mir deswegen Vorwürfe. Tagelang versuche ich, mir vorzustellen, was passiert ist, in der Hoffnung, die Trauer zuzulassen. Erst später, als ich zum fünften Mal vor den Bergen aus Blumen und Kerzen stehe, trifft mich die Traurigkeit wie ein Tritt in die Kniekehlen.

Der Angst keinen Raum geben

In den Wochen darauf laufe ich mit hochgezogenen Schultern, angespannt durch die Stadt. In Menschenaufläufen fühle ich mich unwohl, vor allem in der Metro. Und nerve mich selbst damit. Ich will nicht einknicken, will der Angst die Stirn bieten. Andere sind ebenfalls in Alarmstellung, zucken bei kleinsten Geräuschen zusammen – einige Tage nach den Anschlägen kommt es grundlos zu einer Massenpanik auf dem Place de la République. Das Universitätsgebäude darf ich erst betreten, nachdem ich von (oft süffisant grinsendem) Security-Personal abgetastet werde. Mehrfach gibt es dort falschen Alarm, die Stimmung ist überreizt. Ich ermahne mich ständig zur Ruhe.

https://ze.tt/duerfen-die-opfer-von-paris-gezeigt-werden/

Auf jedem Meter patrouillieren plötzlich Soldat*innen mit Maschinengewehr im Anschlag, und ich frage mich, ob sie mich eher beruhigen oder nervöser machen. Ein besänftigendes Maschinengewehr; wie absurd, überhaupt so zu denken. Der Verstand siegt glücklicherweise schnell: Militär im urbanen Raum? Sehr schlechte Idee. Das war der Wendepunkt: Den inneren Schalter umzulegen, von instinktiver Überreaktion zurück zur Vernunft. Angst ist menschlich – und eine evolutionär sinnvolle Reaktion, weil sie uns vor Gefahren warnt. Auf ihrer Basis politische Entscheidungen zu treffen ist allerdings gefährlich.

François Hollande hat diesen Schalter nicht umgelegt, sondern mit purer Panik reagiert: Er hat den (bis heute anhaltenden) Ausnahmezustand über Frankreich verhängt und das Land gegen den IS in den Krieg geführt. Diese "Anti-IS-Koalition" hat bis heute über 54.000 Bomben abgeworfen und mindestens 1.780 Zivilist*innen getötet. Vergeltungsschläge ohne langfristige Strategie sind nicht nur grausam – sie sind auch ineffizient. Angst ist ein miserabler Berater.

Rechte Parteien nutzen die diffuse Furcht vor "dem Terror" für sich, das zeigt sich nicht nur im Erfolg von Donald Trump oder dem Erstarken des Front National, sondern im zunehmenden Rechtsruck – europaweit. Dabei ist es viel wahrscheinlicher bei einem Haushaltsunfall ums Leben zu kommen als durch einen Terroranschlag. Die Pariser*innen haben nach den Anschlägen den Twitter-Hashtag #jesuisenterrasse berühmt gemacht: Ich bin (jetzt erst recht) im Straßencafé. Eine Reaktion des Trotzes: sie haben die Angst akzeptiert, aber handeln nicht nach ihr. Denn das ist noch immer eine Entscheidung.Merken

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