Der 1. Mai 2020 wird kein gewöhnlicher 1. Mai werden. Wie kaum ein anderer Tag im Jahr ist der Tag der Arbeit geprägt von Demonstrationen. Politischer Protest ist in der Corona-Krise aber schwierig geworden.

Die Verordnungen zur Eindämmung des Coronavirus schränken in allen Bundesländern das Versammlungsrecht massiv ein. Allein in Berlin hat die Polizei seit Mitte März über ein Dutzend Anträge auf Ausnahmegenehmigungen abgelehnt und mehrere unangemeldete Demos aufgelöst. Eine Einschränkung der Grundrechte wie aktuell hat es in Deutschland seit Gründung der Bundesrepublik nicht gegeben.

Abwägen zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Recht, sich zu versammeln

Das Versammlungsrecht ist eines unserer demokratischen Grundrechte und in Artikel acht des Grundgesetzes festgeschrieben: Danach hat jede*r Deutsche*r das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Es ist damit Teil dessen, was unseren Rechtsstaat ausmacht und ein wesentliches Mittel für Bürger*innen, ihren Anliegen Gehör zu verschaffen.

Das unterstreicht auch die Verfassungsrechtlerin Nora Markard: "Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, das vielen nicht so wichtig ist, weil sie es nicht nutzen, vielleicht ist es auch zu selbstverständlich. Es ist aber vom Bundesverfassungsgericht als grundlegend für die Demokratie bezeichnet worden. Ich glaube, zu Recht  weil auf die Straße zu gehen, noch mal viel niedrigschwelliger ist, als zum Beispiel auf Twitter zu formulieren, warum genau ich dagegen bin."

Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, das vielen nicht so wichtig ist, weil sie es nicht nutzen.
Verfassungsrechtlerin Nora Markard

Eigentlich gilt: Demonstrationen müssen lediglich bei der Ordnungsbehörde angemeldet und nicht genehmigt werden. Aktuell benötigt man jedoch genau das, eine Ausnahmegenehmigung.

Nora Markard betont, dass Leben und Gesundheit zwar wichtige Rechtsgüter seien und der Staat auch in der Pflicht sei, diese zu schützen. Das entlaste aber nicht von einer Abwägung nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit: "Wenn wir die Versammlungsfreiheit jetzt beschränken, dann ist das unter bestimmten Voraussetzungen erst mal grundsätzlich zulässig. Aber eben nur so weit, wie es erforderlich ist. Und es gibt Lösungen, die Schutzpflicht und Freiheitsschutz übereinbringen können", sagt Markard.

Einschränkung der Grundrechte unter dem Deckmantel des Infektionsschutzes

Mitte April hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Urteil zum Demonstrationsrecht in der Corona-Krise gesprochen. Im konkreten Fall hatte die Stadt Gießen zwei Demos verboten – mit der Begründung, dass nach der hessischen Corona-Verordnung Versammlungen von mehr als zwei Personen nicht erlaubt seien. Dagegen klagten die Veranstalter*innen. Die Verfassungsrichter*innen entschieden letztlich, dass ein generelles Demonstrationsverbot nicht erlaubt sei. Erst müssten der Einzelfall und die zugesicherten Schutzmaßnahmen geprüft werden.

Absurd wird es, wenn man einerseits sagt, man darf beim Bäckerladen anstehen, aber wenn die Leute dabei Schilder hochhalten, dann nicht.
Nora Markard, Verfassungsrechtlerin

Das Urteil scheint zu wirken. Henri Dubois, Sprecher der internationalen Bewegung Seebrücke, die sich für die Rechte geflüchteter Menschen einsetzt, sagte gegenüber ze.tt, dass sich die Situation im Vergleich zu Anfang April verbessert habe.

Am 5. April war es in Berlin beim bundesweiten Aktionstag der Kampagne #LeaveNoOneBehind zu massiven Einschränkungen gekommen. Veranstaltungen wurde nicht genehmigt, Aktionen, die trotzdem stattfanden, unterbunden. Die Polizei nahm die Personalien derer auf, die allein oder zu zweit Schuhe oder Plakate vor dem Brandenburger Tor in Berlin oder an anderen Orten der Stadt ablegten.

"Da dachten wir auch: Es nimmt krasse Züge an und ist sehr bedenklich, wie die Grundrechte gerade eingeschränkt werden", sagt Henri Dubois. "In einem Interview habe ich damals gesagt: 'Es kann doch nicht sein, dass unter dem Deckmantel des Infektionsschutzes demokratische Grundrechte so eingeschränkt werden.' Wir machen in den letzten Wochen aber die Erfahrung, dass sich das oftmals gebessert hat."

Er verweist dabei unter anderem auf die Demo am vergangenen Wochenende in Hamburg. Dort demonstrierten 500 Menschen entlang der Elbe mit Abstand und Masken – als 25 einzeln angemeldete Mahnwachen à 20 Personen nebeneinander:

Beim Bäcker anstehen? Ja. Beim Bäcker mit Schild anstehen? Nein.

Bei der Schuhaktion oder etwa Autokorsos ist für Verfassungsrechtlerin Nora Markard ein erhöhtes Infektionsrisiko eigentlich nicht ersichtlich. Aber auch bei klassischen Versammlungen auf öffentlichen Plätzen könne es kein pauschales Verbot geben: "Die Polizei hat auch sonst die Aufgabe, mögliche gefährliche Situationen bei Demonstrationen im Blick zu behalten und gegebenenfalls einzuschreiten – und nicht präventiv zu verbieten, sondern alles zu tun, damit sie störungsfrei ablaufen können. Das muss grundsätzlich auch in Corona-Zeiten möglich sein." Von Versammlungsbehörden brauche es ein klares Signal, um dann gemeinsam mit Organisator*innen von Demos Schutzkonzepte zu erarbeiten, die tragbar und realistisch seien.

Manche Grundrechte haben nicht so eine starke Lobby wie andere.
Nora Markard, Verfassungsrechtlerin

"Absurd wird es, wenn man einerseits sagt, man darf beim Bäckerladen anstehen, aber wenn die Leute dabei Schilder hochhalten und das quasi als Ersatz für Versammlungen nutzen, dann nicht. Plötzlich wird es gefährlich, weil sie ein Schild dabei haben?", sagt Nora Markard. "Daran sieht man auch, dass manche Grundrechte nicht so eine starke Lobby haben wie andere."

Denn in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens entscheide man sich Markard zufolge bewusst dagegen, sie dem Infektions- und Gesundheitsschutz unterzuordnen: "Das Tempolimit ist eigentlich ein sehr plastisches Beispiel. Das ist nun wirklich kein besonders großer Eingriff und wir wissen, dass dadurch die Unfallzahlen und auch die Todeszahlen auf den deutschen Autobahnen stark zurückgehen würden. Wir führen es aber trotzdem nicht ein."

Der Protest verlagert sich auch ins Netz

Die Bewegung Seebrücke hat derweil bereits zwei Online-Proteste organisiert, an denen sich mehrere Tausend Menschen beteiligten, um Alternativen zu schaffen. Das Internet könne jedoch kein Ersatz für politischen Protest auf der Straße sein, sagt Nora Markard: "Es hat eine ganz andere Reichweite und auch einen gewissen Empowerment-Effekt, sich zu vielen auf der Straße zu fühlen und Anliegen Sichtbarkeit zu verschaffen."

Ich rede eigentlich nur noch zu demokratischen Grundrechten. Aber mein Hauptpunkt ist, dass sich die Rechte von geflüchteten Menschen drastisch verbessern müssen.
Henri Dubois, Sprecher von Seebrücke

Ist das nicht möglich, würden zivilgesellschaftliche Stimmen wegfallen und es werde schwieriger, auf Dinge aufmerksam zu machen, die gerade "unter dem Deckmantel der Pandemie" ohne die entsprechende Aufmerksamkeit laufen. Als Beispiel nennt Nora Markard die Situation an den europäischen Außengrenzen.

Darauf kommt auch Seebrücke-Sprecher Henri Dubois: "Wir sind gerade viel im medialen Fokus, wenn es darum geht, was unsere neuen Protestformen sind und wie wir mit Corona umgehen. Ich rede eigentlich nur noch zu demokratischen Grundrechten, aber mein Hauptpunkt ist, dass sich die Rechte von geflüchteten Menschen drastisch verbessern müssen. Gerade ist ja eine Zeit, in der Solidarität im Vordergrund steht. Wir versuchen immer wieder, klarzumachen, dass Solidarität nicht an den EU-Außengrenzen aufhört."

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Und was ist nun am 1. Mai zu erwarten?

In Berlin sind (Stand: Montag 27.4.) bereits 18 Demos angemeldet, entschieden hat die Polizei jedoch noch über keine davon. In der Haupstadt sind aktuell Versammlungen mit bis zu 20 Personen unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Hinzu kommt das Bündnis Revolutionärer 1. Mai, das mehrere kleine Aktionen in Kreuzberg ohne Anmeldung angekündigt hat und Genaueres am Abend über die eigene Homepage und Social Media verbreiten will. Eine zentrale Demo werde es jedoch nicht geben. Die Teilnehmenden sind dazu aufgerufen, Abstand zu halten und sich zu vermummen.

Vermummungen sind eigentlich auf Demonstration verboten und waren in der Vergangenheit immer wieder Anlass dafür, dass Polizist*innen Demos auflösten. In Münster hat die örtliche Versammlungsbehörde jedoch wegen der Auflage, Mund- und Nasenschutz zu tragen, sogar ein Vermummungsgebot erlassen. "Am 1. Mai ein ganz amüsantes Detail", findet Nora Markard.