Wir alle sind dem Alterungsprozess unterworfen. Tagtäglich sterben unzählige Milliarden verbrauchte und beschädigte Körperzellen ab und machen Platz für neue. Die Fähigkeit unseres Körpers, diese Zellen neu zu bilden, lässt mit den Jahren nach. Der gesamte Stoffwechsel verlangsamt sich. Körperfunktionen gehen Schritt für Schritt in den Ruhestand, und so verändert sich auch die Physik des Menschen. Die Haut verliert langsam ihre Spannung, wird dünner und trockener, es entstehen Falten. Der kleiner werdende Wassergehalt in den Bandscheiben lässt uns schrumpfen. Muskeln werden weniger, der Fettanteil hingegen wächst. Die Haare trennen sich von ihren Pigmenten und damit von ihrer Farbe, oder sie verabschieden sich gänzlich. Und durch deren unaufhaltsames Wachstum sind Nase und Ohren am Ende unsere Lebens so groß wie nie zuvor. Das Leben ist von ständiger Veränderung gezeichnet.

Man könnte den Alterungsprozess mit dem Stundenzeiger einer Uhr vergleichen. Wer ihn anstarrt und auf Veränderungen wartet, wird keine wahrnehmen. Trotzdem passieren sie in winzigen, kaum wahrnehmbaren Schritten ständig. Der Haaransatz verzieht sich nicht von einem Tag auf den anderen, die Krähenfüße nisten sich nicht schwuppsdiwupps ein. Leichter sind solche Alterungsprozesse meist an anderen Personen zu erkennen und genau wie beim Stundenzeiger vor allem dann, wenn man sie länger nicht gesehen hat.

Dem Fotografen Thomas Kierok fiel dieser Alterungsprozess vor etwa zwei Jahren bewusst auf. Er wurde gerade 50 und traf alte Freund*innen wieder. Etwas war anders, es waren Kleinigkeiten. War da ein Tränensack mehr? Schimmerten da kleine rote Äderchen durch die Haut? Hatte sein Kumpel das letzte Mal schon diese Geheimratsecken? Kieroks Freund*innen waren älter geworden. Und obwohl es das Natürlichste der Welt war, brachte ihn das zum Nachdenken.

"Es faszinierte mich, wie ich winzige Veränderungen an Freunden, die ich länger nicht gesehen hatte, sofort bemerkte", sagt er. Er beschloss, den Prozess des Alterns festzuhalten: mit 100 Menschen auf 100 Fotos, für jedes Lebensjahr eines. Das Projekt nannte er 100 Years of Life. "Natürlich ist das kein wissenschaftliches, sondern ein rein künstlerisches Projekt. Es soll zeigen, dass jedes Alter seine eigene Schönheit besitzt", sagt der Fotograf aus Berlin.

In den folgenden zwei Jahren schoss Kierok insgesamt 100 Porträts. Er bat Babys, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senior*innen in sein Studio in Berlin-Mitte, wo er sie vor einem schlichten, schwarzen Hintergrund, bei neutralem Gesichtsausdruck und immer auf Augenhöhe ablichtete. "Das war vor allem bei Kleinkindern gar nicht so einfach, weil sie von allem schnell fasziniert sind", sagt Kierok. Alle Porträts erscheinen in einem Buch, das er mit einer Crowdfunding-Kampagne finanzierte.

Bei seinen Shootings wären dem Fotografen viele altersbedingte Besonderheiten aufgefallen. Je jünger die Person, desto leichter könne man ihr Alter schätzen. "Ein Zehnjähriger wird niemals wie ein 20-Jähriger aussehen, da passiert zu viel an Entwicklung und Veränderung." Ab 60 oder 70 sei es dafür umso schwerer, eine Person einem bestimmten Alter zuzuordnen. "Es ist ein bisschen paradox. Ich sah bei Senioren kaum noch Unterschiede im Gesicht. Obwohl natürlich jeder Mensch sehr individuell und unterschiedlich intensiv altert, kann man sich beim Raten schon mal um zehn Jahre verschätzen."

In jungen Jahren würden sich Mädchen und Jungen zudem sehr ähnlich sehen. "Sie hatten bis etwa zum elften Lebensjahr eine gewisse Similarität, also keine geschlechtsspezifischen Merkmale." Außerdem sei Kierok aufgefallen, dass Männer ab 70 leicht femininer und Frauen leicht maskuliner werden. Die männlichen Gesichtszüge seien dann weicher, bei Frauen würden aufgrund des hormonellen Ungleichgewichts ab den Wechseljahren schon mal zwei bis drei Haare aus dem Kinn sprießen.

Dass es sich dabei um keine allgemein gültigen Wahrheiten handelt, sei dem Fotografen aber bewusst: "Ich weiß, dass das schlichte Beobachtungen meinerseits sind und keinerlei wissenschaftlichen Anspruch hat." Trotzdem seien die porträtierten Personen laut Kierok weitestgehend für ihr jeweiliges Alter repräsentativ, zumindest bis etwa 60. Nach einem Ausweis, um das Alter zu kontrollieren, habe er allerdings nie verlangt. Wichtiger war es Kierok, natürliche Fotos zu schießen: "Keines der Fotos ist nachbearbeitet. Jede Falte, jeder Pickel ist echt, jedes Haar genau so, wie es war."

Der Fotograf erinnert sich an eine der witzigsten Begegnungen: Da war diese 80-jährige Frau, der nur wenig Zeit für das Shooting zur Verfügung stand, weil sie so viele Termine hatte. Sie war geschminkt und sportlich. Sie erzählte mir, dass sie bereits drei Ehen hinter sich hätte, ihre Ehemänner seien alle verstorben. Ihr neuer Freund müsse schon mindestens zehn Jahre jünger sein, da die Männer in ihrem Alter so langweilig seien. Wir haben viel miteinander gelacht."

Thomas Kierok ist auch auf Facebook und Instagram vertreten.