Jeden Moment beginnt Jaro Abrahams Auftritt. Gemeinsam mit einem Freund soll er Ende Juli etwa 2.000 Menschen in Berlin erklären, warum die Landtagswahlen in Brandenburg wichtig für den Klimaschutz sind. Doch noch steht auf der Bühne jemand anderes: Greta Thunberg. Sie ruft dem Publikum zu, dass sie niemals aufgeben wird und fragt dann: "Seid ihr dabei?" Die Menge schreit und klatscht. Thunberg steigt von der Bühne, der Applaus hält an. Abraham und sein Freund klettern die Treppe zu den Mikrofonen herauf. Die beiden 16-Jährigen tragen kurze Hosen und Stirnbänder, in den Händen halten sie ihr Manuskript.

Die zwei Jugendlichen erzählen dem Publikum, dass in Brandenburg am 1. September gewählt wird. Obwohl das Bundesland nur 2,5 Millionen Einwohner*innen habe, sei Brandenburg wichtig für den Klimaschutz. "Hier stehen zwei der dreckigsten Kohlekraftwerke Europas", sagt Jaros Freund. Immer wieder blicken die beiden auf ihr Manuskript. Sie machen kaum Kunstpausen, wie Thunberg sie in ihre Rede einbaut. Der Applaus ist spärlich. Doch als Jaro ruft: "Wir müssen die Landtagswahlen zu Klimawahlen machen", klatschen und jubeln die Menschen wieder. Jaro lächelt.

Ein Kettenbrief bringt Jaro zum Nachdenken

"Ich war schon aufgeregt vor der Rede", sagt er später. Andererseits war es auch nicht seine erste, denn seit Anfang des Jahres engagiert er sich bei Fridays for Future. Seitdem hat er öfter vor Publikum gesprochen. Während seine Klassenkamerad*innen ins Schwimmbad gehen, beantwortet Jaro E-Mails oder plant den nächsten Klimastreik. Gut fünf Stunden steckt er täglich in seine Arbeit für Fridays for Future. Freitags, wenn gestreikt wird, ist er kaum in der Schule. "Im letzten Halbjahr war ich zweimal freitags da", sagt er. Französisch hat er nur am Freitag, er hat keine einzige Klausur geschrieben. Dass er trotzdem keine 6 bekommen hat, liegt nur daran, dass er im ersten Halbjahr gute Noten hatte.

Wir müssen die Landtagswahlen zu Klimawahlen machen.
Jaro Abraham

Noch vor weniger als einem Jahr dachte Jaro kaum an Klimaschutz. "Das Thema war mir schon wichtig, aber ich habe geglaubt, dass sich die Politiker*innen schon darum kümmern", sagt er. Doch im November 2018 schickt ihm seine 19-jährige Schwester einen Kettenbrief, der sich auch an seiner Schule schnell verbreitet. Darin steht, dass Politiker*innen "die Erde an die Wand fahren" würden und es Zeit sei, ein Zeichen zu setzen. Dieses Zeichen soll ein Sitzstreik vor dem Bundeswirtschaftsministerium sein. Dort tagt zu diesem Zeitpunkt wochenlang eine Kommission, die über den Kohleausstieg debattiert.

Der Brief macht Jaro und viele Klassenkamerad*innen nachdenklich. "Uns ist klar geworden, wie drängend das Problem ist und dass die Politik pennt", sagt er. Sie sprechen untereinander darüber und schließlich auch in ihren Klassen mit den Lehrenden. Einige von ihnen teilen die Ansichten der Schüler*innen und schließen sich ihnen an, obwohl sie eigentlich unterrichten müssten.

Schluss mit der Kohle. Jaro am Tagebau Jänschwalde. © Foto: Manuel Bogner /​ Bearbeitung: Elif Kücük

"Hopp, hopp, hopp – Kohlestopp"

Am Morgen des 26. November steigen gut 40 Schüler*innen und drei Lehrende in einen Zug von Potsdam nach Berlin. Im Wirtschaftsministerium diskutieren die 31 Mitglieder der Kohlekommission, draußen kauern Jaro und die anderen auf Isomatten auf dem Boden. Es sind vier Grad und es nieselt. Sie spielen Mau-Mau, aus einer mitgebrachten Box kommt Musik. Sie rufen "Hopp, hopp, hopp – Kohlestopp" und kochen sich Tütensuppen mit warmem Wasser aus Thermoskannen. Jaro gefällt das Gemeinschaftsgefühl und er ist gleichzeitig überzeugt, etwas Sinnvolles zu tun.

Er informiert sich mehr über die Klimakrise und wird immer fassungsloser. "Es gibt so viele Möglichkeiten, sie zu stoppen, aber die Politik ist einfach zu blöd", sagt er. Im Januar geht er auf die ersten Fridays-for-Future-Demonstrationen in Berlin und meldet sich schließlich bei der dortigen Ortsgruppe. Jemand fügt ihn zu seiner ersten Fridays-for-Future-Whatsappgruppe hinzu.

Es ist ja nicht so, dass ich streiken will. Ich erfülle einfach meine Pflicht.
Jaro Abraham

Mittlerweile ist er in 54 dieser Gruppen. Jaros Leben ist ein steter Strom von Nachrichten, eine Powerbank für sein Smartphone seine ständige Begleiterin. Statt wie früher dienstagnachmittags zum Parkourtrainung zu gehen, trifft er sich mit anderen Aktivist*innen zu Planungsrunden. Schritt für Schritt übernimmt er mehr Verantwortung und ist jetzt Delegierter der Ortsgruppe Potsdam. In Deutschland gibt es etwa 600 dieser Ortsgruppen und jede wählt Delegierte. Diese vertreten die Interessen der Mitglieder der Ortsgruppe gegenüber den anderen Ortsgruppen und planen mit ihnen gemeinsam Aktionen.

Weil es unmöglich ist, sich ständig persönlich zu treffen, läuft vieles über Whatsapp. Nicht immer ist das effizient oder führt zu schnellen Ergebnissen. Eines Morgens wachte Jaro auf, griff nach seinem Handy und fand darauf 2.000 neue Nachrichten. In der Nacht hatte es Diskussionen über eine Großdemonstration in Aachen gegeben. "Ich hab da nur durchgescrollt und quergelesen, alle habe ich nicht geschafft", sagt er.

Seine Klassenkamerad*innen sagen: "Du hast kaum noch Zeit"

Wirklich rausnehmen kann und will er sich aber nicht. Auch seine Klassenkamerad*innen merken das. "Sie sagen schon öfter, dass ich kaum noch Zeit habe, aber sie wissen, dass es für einen guten Zweck ist", sagt er. Auch Ferien hat er in diesem Jahr nicht gemacht. Als seine Familie ans Meer fuhr, blieb er zu Hause. Das funktioniert auch deshalb, weil seine Eltern sein Engagement unterstützen und ihm keine Vorwürfe machen.

Seine einzige Auszeit waren drei Tage in Köln und auch dort hat er bei Leuten aus der Ortsgruppe übernachtet. "Da habe ich nur die nötigsten E-Mails beantwortet und Telefonate geführt", sagt er. Sonst schaut er mindestens alle fünf Stunden nach, was es Neues gibt. In dieser Zeit können mehrere Hundert Nachrichten eingehen. Nicht immer lassen sich die Diskussionen in Chats lösen, dann verabreden sich Delegierte zu Telefonkonferenzen. Einmal war Jaro in einer mit 17 Leuten, die um 8 Uhr abends begann. Nach anderthalb Stunden war sein Akku leer. Als er sich weitere drei Stunden später wieder einklinkte, waren immer noch zwölf Leute in der Konferenz.

Mal drinlassen. © Foto: Manuel Bogner /​ Bearbeitung: Elif Kücük

Kann er das Engagement aufrechterhalten und einen guten Schulabschluss machen?

Trotz des großen Aufwandes erinnert sich Jaro an keinen Tag, an dem ihm seine Arbeit für Fridays for Future keinen Spaß gemacht hat. "Das Thema ist megaspannend, es ist das Thema meiner Generation – und ich will dabei sein", sagt er. Ende Juli war er auf der Sommerkonferenz in Dortmund, wo er mit dem Fahrrad hingefahren ist. Und er plant schon die nächste Aktion. Vom 26. bis zum 31. August möchte er mit anderen Aktivist*innen gegenüber des Potsdamer Landtags zelten. "Wir rechnen damit, dass dort jede Nacht 80 Leute schlafen", sagt er. Die Menschen sollen sehen, wie ernst es ihnen mit dem Klimaschutz ist.

Seine Eltern stehen bei all dem hinter ihm, wie er erzählt. Aber er merkt selbst, dass er nicht für immer so weiter machen kann. Seit Anfang August ist er in der 10. Klasse, dieses Jahr macht er seinen mittleren Schulabschluss und will gute Noten schreiben. Es ist auch nicht klar, wie lange die Lehrer*innen und der Schulleiter noch so kulant mit seinen Fehltagen umgehen. Jaro sagt, dass er sofort aufhören würde zu streiken, wenn die Politik die Forderungen von Fridays for Future umsetzen würde. Eine davon ist zum Beispiel eine Stromversorgung aus 100 Prozent erneuerbaren Energien. Dann würde er auch wieder regelmäßig in die Schule gehen. "Es ist ja nicht so, dass ich streiken will. Ich erfülle einfach meine Pflicht."