Mindestens 140 Menschen starben bei dem Versuch, die Berliner Mauer zu überwinden. Die Fotografin Ethna O'Regan hat die Orte des Todes dreißig Jahre nach dem Mauerfall besucht.

Wo früher Stacheldraht, Scheinwerfer und bewaffnete Soldat*innen die Grenze bewachten, findet man heute stille, moosgrüne Wälder, wilde Wiesen und schlammige, vor sich hinschaukelnde Seen. Nur an wenigen Stellen erinnern 3,60 Meter hohe Betonplatten an die Berliner Mauer, die ehemalige innerdeutsche Grenze rund um Westberlin. Von 1961 bis 1989 wurde durch sie, je nach Perspektive, faschistisches und kapitalistisches Gedankengut von der DDR ferngehalten oder die ostdeutsche Bevölkerung eingesperrt. Etwa 160 Kilometer umfasste die schwer bewachte Grenzanlage rund um den westlichen Sektor.

Mindestens 140 Menschen starben an dieser Grenze – sie wurden erschossen, ertranken oder verunglückten. Wie viele es genau waren, ist nicht mit letzter Gewissheit zu sagen: "Es ist die Vertuschungs- und auch die Zerstörungspraxis von Unterlagen, die das schwer macht, da die DDR-Verantwortlichen Tote haben verschwinden lassen, da sie die Fälle kaschiert haben, da sie andere Todesursachen angegeben haben, wenn sie konnten", sagte der Historiker Jochen Staadt, der eine Studie zur Zahl der Mauertoten verfasste, dem MDR.

Seit 2006 führt der Berliner Mauerweg entlang der ehemaligen Grenze. Zu Fuß oder mit dem Rad wandert man auf dem ehemaligen Westberliner Zollweg oder auf dem Kolonnenweg, den die DDR-Grenztruppen für ihre Kontrollfahrten angelegt hatten. Die irische Fotografin Ethna O'Regan unternahm im Frühling 2013 ihre ersten Ausflüge ins Berliner Umland. Mit dem Fahrrad fuhr sie den Mauerweg entlang – aus Neugier auf das, was hinter dem Stadtring lag.

Auf den Spuren der Toten der Berliner Mauer

"Auf einem dieser ersten Ausflüge entlang des Berliner Mauerwegs stieß ich bei Sacrow, nahe Potsdam, auf das Denkmal für Rainer Liebeke", so O'Regan. Das Denkmal zeigt ein Foto des jungen Mannes, ein schmales Gesicht, dunkle Augen, dunkles Haar, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Liebeke ertrank 1986 mit 34 Jahren bei dem Versuch, in den Westen zu fliehen. Seine Leiche wurde eine Woche später von Schulkindern im Sacrower See entdeckt.

"Diese Geschichte hat mich verfolgt", sagt O'Regan. Immer wieder stieß sie auf ähnliche Denkmäler. An insgesamt 29 Standorten entlang des Weges wird an die Toten der Berliner Mauer erinnert. "Die Wehmut dieser Erinnerungen an eine heute fast vergessene Vergangenheit hat mich dazu motiviert, weiter zu forschen", so O'Regan. Sie schoss Fotos der Landschaft rund um die Erinnerungsorte – Landschaften, in denen man heute nur noch selten vereinzelte Betonblöcke oder rostigen Stacheldraht als Erinnerungen an die tödliche Grenze findet.

Fünf Jahre lang dokumentierte die Irin die Orte, an denen bis vor dreißig Jahren Menschen starben. 2019, zum 30. Jubiläum des Mauerfalls, erschien ihr Fotoband Beyond Reach, Außer Reichweite, das Ergebnis ihrer Reise. Darin konzentriert sie sich auf die Denkmäler von sechs Opfern der innerdeutschen Grenze: In schwarz-weiß zeigt sie die Porträts von Franciszek Piesik, Erna Kelm, Norbert Wolscht, Karl-Heinz Kube, Rainer Liebeke und Helmut Kliem. In Farbe zeigt O'Regan die stille Natur, die außerhalb des Stadtzentrums über die ehemaligen Grenzanlagen wächst. Entstanden sind melancholische Farbfotos von herbstlichen Bäumen vor grauem Beton, algengrünen Gewässern, dornenumrankten Mauern, die zeigen, wie aus Orten des Todes Orte der Erinnerung geworden sind.

"Die Landschaft wird zur Metapher, sie soll ein Gefühl der Erinnerung an die Opfer der Berliner Mauer auslösen und zum Nachdenken über die schlimmen Umstände, unter denen sie starben, anregen", so O'Regan. Gewidmet hat sie den Bildband den 140 bekannten Toten der Berliner Mauer, deren Namen am Ende des Buches aufgelistet sind.

Der Bildband Beyond Reach ist 2019 beim Kehrer Verlag erschienen.

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