Chris Porsz fotografierte in den Siebzigern und Achtzigern Passant*innen auf den Straßen seiner Heimatstadt in Ost-England. Sein Projekt zeigt, welche Auswirkungen es auf eine Gesellschaft und ihre Menschen hat, wenn die Zeit vergeht.
30 Jahre später: Fotograf zeigt mit Damals-heute-Fotos, wie sich Menschen verändern
Fotografieren ist für Chris Porsz ein Hobby. 1974 brach er sein Studium der Sozialarbeit ab und arbeitete 13 Jahre lang als Pförtner eines Krankenhauses. In dieser Zeit spazierte er nach Feierabend oder zwischen seinen Schichtdiensten am liebsten durch die Straßen seiner Heimatstadt Peterborough im Osten Englands und knipste Bilder von Passant*innen. Einfach so aus Vergnügen, ohne einen weiteren Plan.
Statt Menschen aus der langweiligen Mittelklasse interessierten ihn vor allem exzentrische Charaktere, die aus der Menge herausstachen. Punks mit buntgefärbtem Irokesenschnitt, Musiker*innen, außergewöhnlich gekleidete Personen. Über die Jahre schoss er Tausende Fotos. Sie alle entwickelte er in seiner provisorischen Dunkelkammer zu Hause, viele gingen verloren oder wurden beschädigt. Dass er damit nicht nur die Menschen, sondern ebenso ein Stück der Geschichte seiner Heimatstadt einfangen würde, war ihm noch nicht bewusst. Genauso wenig, dass sich jemand drei Jahrzehnte später für seine Fotos interessieren könnte.
Der fotografierende Rettungssanitäter
Er begann als Rettungssanitäter zu arbeiten. Das tut er bis heute, seit mittlerweile fast 30 Jahren, in denen er auch seine drei Kinder großzog. Das Fotografieren ließ er sein, die Fotos von früher verstaubten langsam irgendwo zu Hause. Irgendwann im Jahr 2009 flammte seine Leidenschaft für sein Hobby wieder auf, und er beschloss, seine alten Fotos an die lokale Tageszeitung Peterborough Evening Telegraph, heute Peterborough Telegraph, zu schicken. Zu seiner eigenen Überraschung kamen die Fotos gut an und Chris bekam schnell eine eigene wöchentliche Kolumne namens Paramedic Paparazzo.
Leser*innen der Zeitung liebten seine Kolumne und das nostalgische Gefühl, das sie beim Betrachten der Fotos ihrer Heimatstadt überkam. Einige der Leser*innen erkannten sich auf den Fotos von vor 30 Jahren wieder. „Das war mein großes Aha-Erlebnis“, sagt Chris. „Ich hatte die Idee, aktiv nach weiteren dieser mir fremden Leute von damals zu suchen, um zu sehen, wie sie sich über die lange Zeit verändert hatten.“ Anfangs wollte Chris dafür einen ausgebildeten Fotografen engagieren, entschloss sich aber letzten Endes dagegen.
Für mehrere Monate arbeitete ich täglich fast 18 Stunden. Es war hart, aber es hat sich ausgezahlt.
Chris Porsz
Die Kontaktdaten der jeweiligen Personen hatte er damals nicht aufgenommen. Um sie zu finden, musste er sich auf die Rückmeldungen zu seiner Kolumne, die er sieben Jahre schrieb, verlassen. „Für mehrere Monate arbeitete ich täglich fast 18 Stunden. Es war hart, aber es hat sich ausgezahlt“, erzählt Chris. Die Information, dass er an einem neuen Projekt arbeitete, verbreitete sich schnell in Peterborough. „Sie unterstützten mich, betrieben Ahnenforschung und leisteten Detektivarbeit“, erzählt er über die Einwohner*innen. Zweimal spielte ihm sogar reiner Zufall in die Hände, als ihn Patient*innen im Rahmen seiner Arbeit als Rettungssanitäter erkannten. „Wir fuhren zu dem Anrufer nach Hause und behandelten ihn. Als es ihm besser ging, sagte er: ‚Hey, du bist doch der, der vor vielen Jahren ein Foto von mir geschossen hat?‘, und so nahm er schließlich an meinem Projekt teil“, erzählt der heute 65-jährige Fotograf.
Bittersüße Reunions
Das Ergebnis des Projekts ist das Buch Reunions mit 134 Aufnahmen von damals und heute. Laut Chris hätte der Titel des Buchs genauso gut Random heißen können, da ein großer Teil seiner Arbeit auf zufälligen Faktoren basierte. Kann er die Person ausfindig machen? Hat ihr Foto von damals unbeschadet überlebt? Ist die Person einverstanden, beim Projekt mitzumachen? Viele hatten ihre Heimatstadt mittlerweile verlassen, einige tauchten zu einem vereinbarten Fototermin nicht auf, antworteten nicht oder legten Chris falsche Fährten.
„Einige der Reunions waren bittersüß. Wenn Personen jung verstorben waren und daher nicht mitmachen konnten, sprangen manchmal andere Familienmitglieder ein. Das war dann eine andere Art der Reunion“, sagt Chris. Dann kamen Schwestern, Zwillingsbrüder oder auch Kinder oder Enkelkinder und posierten anstelle der jeweiligen Person. Am schönsten sei es jedoch gewesen, wenn ehemalige Freund*innen die Chance nutzten, wieder miteinander in Kontakt zu treten. In diesen Fällen waren die Wiedersehen sehr emotional, die Tränen flossen, es wurde umarmt und geküsst. Personen, die sich aus den Augen verloren hatten, frischten ihr Verhältnis wieder auf, genauso wie einige Familienmitglieder.
Obwohl Chris zu den Fotoshootings immer das Originalfoto mitnahm, war es oft nicht einfach, dieses nachzustellen. In drei Jahrzehnten veränderten sich nicht nur die Personen, sondern auch die Umgebung. Da, wo früher ein Park war, steht heute womöglich ein Wohnhaus, andere Gebäude wurden abgerissen, neue Straßen gelegt, Kaufhäuser gebaut. Einige Aufnahmen würden deshalb auf den ersten Blick nicht sehr ähnlich aussehen. Auch diese landschaftlichen Veränderungen sind Belege der jüngeren Geschichte von Peterborough. Chris‘ Projekt zeigt auf unübliche Weise, welche Auswirkungen die Zeit auf eine Gesellschaft und ihre Menschen hat. Die alten Läden, die überholte Technologie, die Klamotten und Frisuren sind nur einige Beispiele dafür, wie viel sich in nur 30 Jahren verändern kann – und auf Chris‘ Fotos zu entdecken ist.
Außerdem auf ze.tt: Damals jung, heute über 100 Jahre: So verändern sich Gesichter im Alter
Geboren: 1909, Zásmuky in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Metallurgie-Techniker
Derzeitiger Wohnort: Familienbauernhof, den seine Tochter extra für ihn bei der Burg Točník errichten ließ
Derzeitige Hobbys: mit Kreissäge schneiden
Familiäre Beziehung: sehr gut, lebt zusammen mit seiner Tochter (im Ruhestand), deren Ehemann und seinen Enkelkindern
Unvergessliche Erinnerung: warme, frische Ziegenmilch
Wünsche: Gesundheit und gute Laune für alle
Geboren: 1909, Zhoř in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Bäuerin
Derzeitiger Wohnort: Seniorenheim in Sloupnice in Tschechien
Derzeitige Hobbys: Romantische Romane von Vlasta Javořická lesen
Familiäre Beziehung: —
Unvergessliche Erinnerung: russische Volkslieder mit einen Kinderchor singen, einsames Leben auf dem Bauernhof, nachdem ihr Ehemann von den Nazis fortgeschafft wurde
Wünsche: Ehemann nach dem Tod wiedersehen
Geboren: 1908, Pozořice in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Elektrotechniker
Derzeitiger Wohnort: eigenes Haus in der südmährischen Region in Tschechien
Derzeitige Hobbys: Do-it-yourself-Hausarbeit
Familiäre Beziehung: sehr gut, lebt zusammen mit lediger Tochter
Unvergessliche Erinnerung: es ist zu früh, um an die Vergangenheit zu denken
Wünsche: Gesundheit für sich und Tochter
Geboren: 1910, in Vrchy in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Bäuerin
Derzeitiger Wohnort: Seniorenheim in Přelouč
Derzeitige Hobbys: schlafen
Familiäre Beziehung: gut, ihre Tochter besucht sie jedes Wochenende
Unvergessliche Erinnerung: Selbstversorgung
Wünsche: sterben
Geboren: 1907, Cerekvice in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Musiker, Fahrer, Filmprojektor-Betreiber
Derzeitiger Wohnort: Seniorenheim in Ústí nad Labem in Tschechien
Derzeitige Hobbys: Musik hören, Zeitung lesen
Familiäre Beziehung: sehr gut, Tochter besucht ihn täglich
Unvergessliche Erinnerung: mit seiner Band musizieren, seine glückliche Ehe
Wünsche: noch einmal Klarinette spielen
Geboren: 1907, Merano in Italien
Ehemaliger Beruf: Buchhalterin
Derzeitiger Wohnort: Seniorenheim in Brno, Tschechien
Derzeitige Hobbys: Karten aus der Kindheit durchschauen
Familiäre Beziehung: kinderlos
Unvergessliche Erinnerung: frühe Kindheit
Wünsche: noch einmal Italien besuchen
Geboren: 1906, Lovčice in Tschechien.
Ehemaliger Beruf: Bauarbeiter
Derzeitiger Wohnort: eigenes Haus in der südmährischen Region in Tschechien
Derzeitige Hobbys: Ruhe und Frieden
Familiäre Beziehung: sehr schlecht, seine Familie lehnt ihn ab
Unvergessliche Erinnerung: acht Jahre Gefängnis wegen seiner Funktion als Bezirkshauptmann im Zweiten Weltkrieg
Wünsche: Rechenschaft Gottes für alle
Geboren: 1910, in Panenské Břežany in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Köchin am Flughafen Vodochody
Derzeitiger Wohnort: eigenes Haus im selben Ort, in dem ihre Familie lebt
Derzeitige Hobbys: aktuelle Politik verfolgen
Familiäre Beziehung: ambivalent, entfernte Verwandte besuchen sie öfter als enge Familienmitglieder
Unvergessliche Erinnerung: eigene Anwesenheit im Auto, das Reinhard Heydrichs Sohn tötete, russische Soldaten im Haus nach der Befreiung, Festnahme ihres einzigen Sohnes von Kommunisten im Jahr 1948, Vorlesen eigener Gedichte bei Hochzeiten
Wünsche: die Familie versammelt zu haben
Geboren: 1908, Zlín in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Briefträger
Derzeitiger Wohnort: Seniorenheim in Zlín in Tschechien
Derzeitige Hobbys: —
Familiäre Beziehung: schlecht, sieht seine Familie nicht
Unvergessliche Erinnerung: täglicher Job
Wünsche: seine Tochter sehen
Geboren: 1910, Karolín in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Metzgerin
Derzeitiger Wohnort: eigene Wohnung in Zlín in Tschechien
Derzeitige Hobbys: mit Familie plaudern
Familiäre Beziehung: sehr gut, ihre Tochter, deren Ehemann und ihre Enkeltochter besuchen sie täglich
Unvergessliche Erinnerung: Verstaatlichung der eigenen Firma
Wünsche: Zeit mit der Familie verbringen
Geboren: 1912, Kroměříž in Teschechien
Ehemaliger Beruf: Verwalterin auf Familienbauernhof, Kindermädchen
Derzeitiger Wohnort: Reihenhaus in Čelákovice
Derzeitige Hobbys: Holzhacken, Hausarbeiten
Familiäre Beziehung: sehr gut, lebt mit Sohn (im Ruhestand) zusammen, zweiter Sohn kommt regelmäßig zu Besuch
Unvergessliche Erinnerung: Ehemann, (verstarb vor 60 Jahren, sie versprach ihm, treu zu bleiben und verheiratete sich nie wieder), Schlittenfahren in der Kindheit auf einem Schlitten in Pferdeform
Wünsche: Wohlergehen beider Söhne
Geboren: 1910, Adamov in Tschechien
Ehemaliger Beruf: Schreiber
Derzeitiger Wohnort: Seniorenheim in Blansko
Derzeitige Hobbys: regelmäßig Zeitung lesen
Familiäre Beziehung: sehr gut, seine Tochter besucht ihn zweimal wöchentlich
Unvergessliche Erinnerung: gutes Arbeitsteam
Wünsche: Frieden
Geboren: 1912
Ehemaliger Beruf: Sportlehrerin im Strahov-Stadium in Prag
Derzeitiger Wohnort: Langzeit-Pflegeheim in Prag
Derzeitige Hobbys: englische und französische Literatur, Namen von Dingen in andere Sprachen übersetzen
Familiäre Beziehung: kinderlos
Unvergessliche Erinnerung: in einem Kohlenkeller verstecken, einmal im Jahr 1939 vor den Nazis, einmal im Jahr 1945 vor den Russen, Reisen mit dem Ehemann (Japan, Hong Kong, Afrika)
Wünsche: einschlafen und nie wieder aufwachen