"Bevor ich nach Berlin kam, hat mich das Thema nie interessiert", sagt eine junge Frau, die Sozialwissenschaften an der Humboldt-Uni Berlin studiert. "Aber jetzt habe ich einen Freund aus dem Osten, und der fühlt sich manchmal diskriminiert von Dingen, über die ich nie nachgedacht habe." "Wenn ich in München Sächsisch spreche, gucken mich alle schief an", sagt ein anderer, "obwohl Bayrisch doch genauso doof klingt."

Ich zähle 34 junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren. Es sind viele, die dieselben Fragen umtreibt. Sie sind in meinen Workshop Dritte Generation Ost: Ist Deutschland 2018 wirklich wiedervereint? beim z2x-Festival gekommen. Bei dem Festival von ZEIT ONLINE treffen sich einmal im Jahr junge Menschen in Berlin, um sich über verschiedene gesellschaftliche Probleme auszutauschen. Die 34, die mir gegenüber sitzen, haben zum Beispiel verschiedene Diskriminierungen erlebt, weil sie Dialekt sprechen. Andere sind über neue Freundschaften überhaupt erst mit dem Thema Wiedervereinigung in Berührung gekommen.

Ihre Ideen habe ich in neun Thesen gegossen. Sie zeigen, wo junge Nach-Wende-Bürger*innen die meisten Probleme sehen – und wie sie diese als die jüngste arbeitende Generation unseres Landes lösen würden.

1. Gleicher Lohn und gleiche Rente für gleiche Arbeit

Vielen jungen Menschen ist nicht verständlich, warum Ostdeutsche im Durchschnitt mehr arbeiten, aber weniger verdienen – und damit weniger Rente bekommen. "Es ist klar, dass man unzufrieden ist, wenn man mehr schuftet, aber weniger verdient und das dann auch noch in der Zeitung liest", sagt ein junger Mann aus Dresden. Alle sind sich einig, dass Konjunkturprogramme geschaffen werden müssen, die diese Ungleichheit auch per Gesetz überwinden.

Das Thema Job und Arbeitsplatzwahl spielt für viele in dem Workshop eine große Rolle. Klar, denn die Meisten von ihnen studieren noch oder machen eine Ausbildung. Sie sagen, dass sie dort arbeiten werden, wo sie am meisten verdienen. Das bedeutet: eher nicht auf dem Land und eher nicht in ostdeutschen Unternehmen.

2. Anreize für Neugründungen schaffen

Eine Idee der Workshopteilnehmer*innen war es, gründungswillige Menschen, die sich im eher ländlichen Raum ansiedeln, gezielt zu fördern. Hierfür sollte es ein Stipendienprogramm für junge Gründer*innen im Osten geben.

Zum einen soll das den Geförderten ermöglichen, neue Jobs in strukturschwachen Regionen zu schaffen. Zum anderen sollen so Menschen die Möglichkeit bekommen, in ihrer Heimat zu bleiben – und die Abwanderung soll gestoppt werden.

3. Nahverkehr attraktiver gestalten

Würde man außerdem den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ausbauen, müssten weniger Menschen wegziehen oder lange Strecken pendeln. Eine Idee der Teilnehmer*innen war hier etwa, den Nahverkehr gänzlich kostenfrei anzubieten, wie es ja durchaus vom Bund schon diskutiert wird, oder Modelle von Sammeltaxis und Rufbussen, wie es sie in einigen Regionen schon gibt, auszubauen.

Gefjon Off (23) aus Hamburg und andere in dem Workshop haben zudem die Idee "eines Interrail-Tickets für Deutschland" entworfen. Weil viele "Wessis" noch nicht im "Osten" gewesen seien – und umgekehrt – wünschen sie sich ein gratis Bahnticket, das alle deutschen Bürger*innen zu ihrem 18. Geburtstag bekommen sollen.

Mit dem soll es möglich sein, drei Monate lang quer durch Ost-und Westdeutschland kostenlos zu fahren. Die Bedingung für das Ticket: Es muss immer eine Mindestanzahl von ost- bzw. westdeutschen Städten besucht werden.

4. Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen – Brauchen wir eine "Ossi-Quote"?

"Man sollte sich Gedanken machen, warum auch in Ostdeutschland überdurchschnittlich viele Führungskräfte westdeutsch sozialisierte Menschen sind. Vielleicht versteht man dann auch, was Ostdeutsche bewegt und warum wir immer noch so viele Mauern im Kopf haben", sagt der 21-jährige Moritz Wühr aus Berlin-Friedrichshain.

Man sollte sich Gedanken machen, warum auch in Ostdeutschland überdurchschnittlich viele Führungskräfte westdeutsch sozialisierte Menschen sind.
Moritz Wühr

Für Moritz ist klar, dass es für "Ostsozialisierte" frustrierend sein muss, schwieriger in Führungspositionen zu gelangen oder kaum Vorbilder zu haben, die aus dem Osten sind und schon eine leitende Rolle einnehmen. Viele aus dem Workshop sahen das ähnlich und dachten über Formen nach, wie Teams generell diverser aufgestellt werden könnten. Eine Idee war, eine Ossi-Quote einzuführen. Die soll leitenden Personen in Unternehmen zumindest als Handreichung ein Denkanstoß sein, wenn es darum geht, ihre Teams zu besetzen.

5. Ausgeglichenere Berichterstattung

Die Teilnehmer*innen wünschten sie sich sehr konkret, "mehr spannende 'Ost-Geschichten', die nicht nur über Probleme berichten." Diese sollten "Ost-West-Klischees nicht reproduzieren", sondern "ohne Schablone" berichten. Damit das gelinge und es "Ost-Themen" überhaupt auf die Tagesordnung schafften, fordern sie ein ausgeglicheneres Verhältnis west- und ostdeutscher Redakteur*innen in Redaktionen.

6. Verbesserte Wahrnehmung der DDR-Kultur

"Dem ersten Deutschen im Weltall, Sigmund Jähn, wird heute keine Aufmerksamkeit geschenkt. Wäre er Westdeutscher gewesen, gäbe es heute in jeder Uni einen Sigmund-Jähn-Saal und das Forschungsministerium würde alljährlich die Sigmund-Jähn-Medaille verleihen. Warum ist das so?", fragt sich Moritz. Er und einige andere fordern eine andere Art der historischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte.

Sie plädieren für ein "gemeinsameres Geschichtsverständnis", das dafür sorgt, dass auch gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse in der ehemaligen DDR mehr beleuchtet werden. Ann-Kristin Gaumann aus Siegen meint, "dass Schüler*innen in Ost und West mehr Bewusstsein für die Geschichte der BRD, DDR und des vereinigten Deutschlands brauchen." Die 23-Jährige sagt: "Das könnte man zum Beispiel mit bundeslandübergreifender, projektbezogener Zusammenarbeit im Geschichts- und Politikunterricht erreichen."

7. Austauschprogramme Ost-West

Viele Workshopteilnehmer*innen gingen bis vor Kurzem noch in die Schule. Sie alle konnten sich gut daran erinnern, dass das Thema Wiedervereinigung keine große Rolle spielte, nicht mal im Geschichtsunterricht. Deshalb plädieren sie zum Beispiel für Ost-West-Schüler*innenaustausche oder gemeinsame Klassenfahrten ähnlicher Schulen unterschiedlichster Regionen.

"Genauso wie gemeinsame Reisen könnten aber auch Lehreraustausche stattfinden", sagt Gefjon. Vor allem in Hinblick der historischen Aufarbeitung der Teilung des Landes hielten viele die Etablierung von Schwesterschulen für eine gute Idee. Durch die Partnerschaft einer Schule im Osten und einer im Westen sollten gemeinsame Projekte verwirklicht werden.

Nach der Schulzeit könnte hier wiederum ein staatlich gefördertes Freiwilliges Soziales Jahr anknüpfen, das einen Wiedervereinigungsansatz hat. Konkret wünschten sich die Teilnehmer*innen hier Anreize vor allem für junge "Westdeutsche", in die Neuen Bundesländer zu gehen.

8. Wertfreie Sprache etablieren

Schwäbisch ist hip, Sächsisch ist doof – und wie geht nochmal "Ostdeutsch"? Viele Teilnehmer*innen, die aus "dem Osten" kamen und Dialekt sprachen, haben negative Erfahrungen gemacht. Westdeutsche mit Dialekt eher weniger; aber auch. Alle wünschten sich eine Aufwertung von Dialekten und eine bessere Vermittlung davon, wie wichtig "Hochdeutsch" zum Beispiel bei der Jobsuche sei.

"Es ist ganz klar, dass ich schlechtere Karten beim Bewerbungsgespräch habe, wenn ich Dialekt spreche, als wenn ich mit Hochdeutsch ankomme", sagte eine Teilnehmerin, die ursprünglich aus Leipzig stammt und jetzt in Baden-Württemberg arbeitet. Sie hätte das am Anfang "schon oft mitbekommen", erzählt sie.

Die Teilnehmer*innen sehen die Ursache der verzerrten Wahrnehmung verschiedenster Dialekte vor allem in ihrem Medienkonsum. Sie wünschten sich zum Beispiel weniger klischeebeladene Dialoge in Reality-TV-Sendungen, in denen Sächsisch meist eher als dümmlich verkauft werde. Auch hier wünschten sie sich eine vorurteilsfreiere Herangehensweise und etwa Unterrichtseinheiten in Schulen, die klarmachen würden, dass Deutschland nunmal aus verschiedenen Regionen mit unterschiedlichen Mundarten bestehe.

9. Ganz neuen Feiertag schaffen?

Alle Teilnehmer*innen waren sich darin einig, dass der Tag der Deutschen Einheit kein besonderer Feiertag ist. Während etwa in den USA der 4. Juli und in Frankreich der 14. Juli mit Feuerwerken und etlichen Partys gefeiert werde, geschehe hier nach ihrer Wahrnehmung nichts, "außer langweiliger Reden". Es ist für sie, die nach 1990 geboren sind, "ein Tag an dem irgendein Vertrag unterschrieben wurde." In der Tat ist es tatsächlich leider nicht viel mehr. Und auch, wenn der Tag des Mauerfalls (9. November 1989) als Feiertag problematisch ist, weil am gleichen Datum 1938 die Gewalttaten der Reichspogromnacht stattfanden, wünschten sie sich einen Tag, an dem mehr ausgelassen gefeiert würde, dass wir wiedervereint sind.

ze.tt erzählt Geschichten über Ostdeutschland – abseits von Stasi und Neonazis. Mehr dazu findest du auf unserer Themenseite.