Kurz vor dem Ende der Aufnahmen an diesem Tag, weint Gemma Paintin, so ergriffen ist sie von ihrem Projekt. Dabei hat sie nur ihren türkisblauen Campervan auf einem Platz in Paris geparkt. 17 Jahre alt ist das Ding, gekauft auf gumtree, dem britischen Ebay. Gemma hat ihm türkisblaue Vorhänge und Sitzpolster genäht, türkisfarbene Schuhabstreifer gekauft und die Außenwände im selben Ton angestrichen. Jetzt ist der Wagen so hip, dass eine Frau fragt, ob es an ihrem Food Truck auch Bier gäbe.

Auf Tour durch Europa

35.000 Kilometer, sechs Monate lang sind Gemma und ihr Partner James Stenhouse in dem Wagen im vergangenen Sommer durch Europa getourt – auf der Suche nach Liedern. Liebesliedern. Kitschig finden die beiden das nicht, denn "eigentlich ist jedes Lied ein Liebeslied", sagt James, und: "Man darf auch Trennungslieder singen", sagt Gemma. Sie wollen mit Menschen ins Gespräch kommen, und "den Energiefluss Europas verändern", sagt sie.

Die beiden mögen klingen wie Romantiker*innen, Esoteriker*innen, Träumer*innen. Aber ihr Plan geht auf: In 33 Ländern waren sie, und immer haben sich vor ihrem Wagen Menschen versammelt. Fast 900 Fremde sind inzwischen hineingeklettert, um in dem eingebauten Aufnahmestudio im Campervan für sie zu singen. Diesen Sommer sind Gemma und James wieder unterwegs – auf Festivals und Ausstellungen.

Der vorletzte Freiwillige am Mikrophon ist an diesem Tag Carlos Bures aus Kolumbien. Er hat dunkelbraune Haare und einen festen Blick. 34 ist er, und professioneller Sänger im Chor der Notre Dame. Seit sie abgebrannt ist, fehlt ihnen ein Auftrittsort. Im Van schreibt Gemma, hellblaue Augen, Pausbacken, blonder Pagenkopf, seinen Namen auf ein Papier und erzählt ihm von dem Projekt: Wer singt, werde in eine Datenbank aufgenommen, mit den Liedern von vielen hundert Sängern. Sie notiert auch Titel und Autor des Liedes: Miguel Bosé, sein Lieblingssänger. Dann stellt sie das Aufnahmegerät ein, zwinkert ihm zu: Es kann losgehen.

Liebeslieder nur ein Vorwand

Die Liebeslieder sind eigentlich nur ein Vorwand: Gemma und James wollten so mit Menschen in Kontakt kommen. Lange hatten sie den Wunsch, einmal durch Europa zu reisen. Nach dem EU-Referendum sagten sich die beiden Brit*innen: Wir müssen jetzt fahren, später wird es nur komplizierter, und beantragten Fördergelder. Die bekamen sie, auch weil ihr Projekt mit dem Brexit eine höhere Relevanz bekam.

Während sie in Paris Lieder sammeln, kündigt Theresa May in London ein neues Brexit-Angebot an. Die beiden glauben nicht daran, sehen voraus, dass May zurücktreten wird: Die einzige Lösung, die sie sehen, ist ein neues Referendum. Um Politik sollte es auf ihrer Reise gehen. Aber nach der eigenen Meinung fragen, sei ihm zu flach, zu langweilig, sagt James, ein Mann mit schiefen Zähnen, Ziegenbärtchen und grauen Ansätzen. Auf die Frage "Kennst du einen Lovesong?" falle die Antwort viel interessanter aus.

Zu hören sind die Antworten über zwei Paar Kopfhörer an der Außenseite des Wohnmobils: Popsongs, Folksongs, Kinderlieder, Arien. Liebe und Herzschmerz, Hoffnung, Verzweiflung – alles dabei, meist acapella und allein gesungen, manchmal in Gruppen oder zu zweit, und manchmal begleitet jemand auf einer Gitarre oder einem Akkordeon. 'Radioh Europa', nennen die beiden die Sammlung. Und für wen ist sie gedacht? "Für deinen Liebsten, dein Kind, deine Schwester, für Europa, oder die Briten – das kann man sich selbst aussuchen", sagt James.

Dünne Stimmen, schräge Töne, falsche Rhythmen

Manche Songs klingen so: Dünne Stimmen, schräge Töne, falsche Rhythmen. James und Gemma lassen sich nichts anmerken, behandeln jedes Lied mit Dankbarkeit: "Jedes ist eine Kostbarkeit, ein Geschenk", sagt sie. Weil es die Menschen meist viel Überwindung koste. Vor zu viel Whitney Houston hätten sie Angst gehabt, die aber haben sie bisher nur zwei Mal aufgenommen.

Carlos Bures bricht ab, er hat einen falschen Ton getroffen. Der Song soll perfekt werden. Schnulzig klingen die Lieder von Miguel Bosé auf Youtube, Bures singt sie voller Ernst und Hingabe. Er beginnt noch einmal. Während er singt, schaut Gemma ihn aus ihren hellblauen Augen an. Es sieht so aus, als singe er auch ein bisschen für sie.

Inzwischen kann Gemma unterscheiden, wann Leute Blickkontakt halten, und wann sie lieber nicht angeschaut werden wollen. Dann, sagt sie, tut sie so, als sei sie beschäftigt: Hält ihre Kopfhörer fest oder schreibt auf einem Blatt Papier herum. Die beiden halten Passant*innen nicht an, sie drängen niemanden: Ihr Projekt sei eine Einladung. Während draußen gescherzt wird, seien die Gespräche im Wagen oft tiefgründig und viel persönlicher, sagt Gemma. "An jedem zweiten Aufnahmetag weint jemand", sagt sie, "und es bin normalerweise nicht ich." Den Menschen wirklich zuzuhören, auch darum geht es in ihrem Projekt. "Das ist die Schwierigkeit momentan: Wir führen keine richtigen Gespräche mehr, wir schreien uns nur an", sagt sie.

Wir führen keine richtigen Gespräche mehr, wir schreien uns nur an.
Gemma

Das Lied habe zu ihm gesprochen erzählt Carlos Bures danach, sie notiert es auf dem Blatt. "Ich singe es von Herzen", sagt er. Dass sein Lied mit so vielen anderen Liedern von Menschen aus anderen Ländern gespielt werden wird, findet er toll. Er werde auf jeden Fall reinhören, ins 'Radioh Europa', weil er erfahren wolle, wie sich nordische Liebeslieder anhören.

Auf der Europakarte, die an der Tür hängt, haben Gemma und James Orte markiert, an denen sie Sendemasten aufgestellt haben, bisher 43 Stück. Wer mit der App dorthin geht, kann auf seinem Smartphone 'Radioh Europa' hören: Liebeslieder in Endlosschleife.

Zwei Tage zuvor haben James und Gemma aus den Liebesliedern eine zehnstündige Livesendung gemacht: Im Museum 'Fondation Cartier' in Paris spielten kleine Radioempfänger ab, was die beiden ins Mikrofon sprachen. Die Besucher*innen durften zuschauen. Sie konnten sich auf bequemen Sesseln verteilen, aber sie blieben nicht lange, und wenn sie saßen, dann lasen sie oder betrachteten die Installationen an der Wand. 'Radioh Europa' lief nebenher: Nur wenn das Projekt aktiv erfahrbar ist, scheint es interessant. Ein bisschen eben wie auch die EU.

Symbolische Bedeutung

Die Sendemasten haben für Gemma eine symbolische Bedeutung. Wie Akkupunkturnadeln, die an verspannten Punkten auf dem Körper platziert werden, stehen auch die Masten an besonderen Orten: Am Nordkapp, auf dem Hadrianswall, einer Grenzmauer, die im heutigen Großbritannien den nördlichsten Teil des römischen Reiches schützte, und auf dem Lunghin Pass in der Schweiz, dem Schnittpunkt dreier kontinentaler Wasserschneiden - Regenwasser von dort fließt in die Nordsee, ins Mittelmeer und das Schwarze Meer. Wie die Nadeln im Körper, so sollen die Sendemasten einen anderen Energiefluss in Europa schaffen. An die Energie glaubt Gemma selbst nicht, sagt sie. Aber die Idee gefalle ihr.

Das Wohnmobil wackelt. Schuld daran ist ein hoher, dünner Typ, mit dunkler Haut und Rastas. Anfangs verschwand er unter seinem weiten Daunensteppmantel, hielt sich mit den Händen an den Kopfhörern fest, sang vorsichtig. Jetzt rappt er und improvisiert, die Hände in der Luft, mit so viel Energie, dass auch der Wagen hoch und runter wippt. Strahlend kommt er heraus, den Mantel unterm Arm. "Das ist echt cool! Ich komme morgen wieder", sagt er und verschwindet.

Viele sehen den größeren Zusammenhang nicht. "Die haben dann einfach nur Spaß am Singen", erzählt Gemma. "Und das ist voll okay für mich", sagt sie. "Wobei, wenn sie singen, anstatt einkaufen zu gehen, Netflix zu schauen oder durch Facebook zu scrollen, dann ist das enorm."

Für mich ist das so eine große, europäische, romantische Geste.
Gemma

Aber es gäbe genauso viele, die wahrnehmen, dass das Projekt eine weitere Ebene hat. Auf sie will Gemma hinaus, als sich ihre Augen mit Wasser füllen. Eine Träne läuft heraus und springt von der Backe auf ihre türkisfarbene Regenjacke. Zehn vor sieben ist es, die vier Aufnahmestunden an dem Tag fast vorbei. "Für mich ist das so eine große, europäische, romantische Geste", sagt sie. "Wir geben den Menschen mit dem Projekt die Möglichkeit, an etwas teilzunehmen, das größer ist: größer als man selbst, größer als die eigene Community, größer als das eigene Land."

Vielleicht braucht es dafür Menschen, die auf den ersten Blick scheinen wie Romantiker*innen, Träumer*innen, Idealist*innen.

Den Besuch bei Gemma und James bezahlte Sophie mithilfe eines Stipendiums des deutsch-franzoesischen Jugendwerks.