Es geht mir nicht darum, die Regierung zu beschäftigen." - Anton Friesen, AfD

Es ist der 10. Januar 2018, als Mitarbeiter*innen des Auswärtigen Amts eine Kleine Anfrage des AfD-Bundestagsabgeordneten Anton Friesen im Briefkasten finden. Friesen fragt darin nach der 25-jährigen Partnerschaft zwischen Deutschland und Aserbaidschan. Wirklich klein ist diese Anfrage nicht; sie umfasst vier Seiten mit 38 Fragen. In der ersten fragt Friesen, welche Städtepartnerschaften es gibt. Eine simple Google-Suche und ein Besuch auf der Webseite des Auswärtigen Amts hätten das beantwortet.

Der 33-jährige Friesen fragt auch nach jährlichen Öl- und Gasimporten aus Aserbaidschan in die Bundesrepublik Deutschland. Oder nach allen Flugverbindungen von Deutschland nach Aserbaidschan seit 1992. Hier reicht eine simple Google-Suche nicht mehr.

Die Mitarbeiter*innen des Auswärtigen Amts benötigen für die 122 Seiten lange Antwort drei Wochen. Sie müssen alle diese Fragen beantworten.

Sechs Monate später sitzt Friesen in seinem Büro im Berliner Otto-Wels-Haus, wo viele AfD-Abgeordnete ein Büro haben, auf einem Lederstuhl und schmunzelt. Er trägt einen nach rechts gekämmten Scheitel, ein schwarzes Jackett und keine Krawatte über dem weißen Hemd. "Es geht mir nicht darum, die Regierung zu beschäftigen", sagt er. Angesichts der Tatsache, dass der studierte Politikwissenschaftler bisher 64 solcher Kleinen Anfragen gestellt hat und damit Spitzenreiter bei der AfD ist, möchte man ihm das kaum glauben.

Politik machen mit Kleinen Anfragen

Insgesamt stellte die AfD-Fraktion in dieser Legislaturperiode 346 Kleine Anfragen, etwa 25 Prozent davon stammen von Friesen. Die jüngste und zum ersten Mal im Bundestag vertretene Partei belegt Platz zwei hinter den Linken, die bisher 559 Kleine Anfragen stellten.

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Traditionell nutzen das Mittel der Kleinen Anfrage vor allem die Linken, um Aufmerksamkeit auf politische und gesellschaftliche Missstände zu lenken. Die Themengebiete der Linken sind häufig: fehlende Gleichstellung, Ungerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt, rechte Gewalt.

In dieser Legislaturperiode wurden bislang insgesamt 1.464 Kleine Anfragen (Stand 16. August) von allen Oppositionsparteien im Bundestag gestellt.

Die AfD fragt überdurchschnittlich oft nach Geflüchteten und Zuwanderung – direkt und indirekt

Friesen wirkt wie jemand, dem wichtig ist, wie er wahrgenommen wird. Und wie jemand, der seinen Tag minutiös taktet. Zum Gespräch mit ze.tt stimmte er mit dem Hinweis zu, er werde davor ein Video für seine Wähler*innen in Erfurt drehen und danach einem Schüler den Bundestag zeigen. Friesen bietet Getränke an, gibt sich höflich und interessiert. Auffallend ist, wie bedacht er seine Sätze formuliert und wie professionell er kritischen Fragen ausweicht.

Wenn Friesen spricht, bemerkt man seine Herkunft. Er wuchs im Norden Kasachstans auf und kam mit zehn Jahren als russlanddeutscher Spätaussiedler nach Deutschland. Er spricht mit russischem Akzent. Seine eigene Geschichte hält ihn nicht davon ab, weltweite Flucht zu relativieren, von "islamischer Masseneinwanderung" und von Menschen als "tickenden Zeitbomben" zu sprechen.

Etwa zehn bis zwölf Arbeitsstunden pro Woche steckt Friesen in seine Anfragen. Beim Recherchieren, Ausformulieren und Versenden hilft ihm sein Team in Berlin. Hinter seinem Schreibtisch hängt ein Holzkruzifix, darunter liegen Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab, Patrick Buchanans The Death of the West und Michel Houellebecqs Unterwerfung. "Nur ein paar meiner Vordenker", sagt Friesen. Früher wählte er SPD, seit 2013 ist er AfD-Mitglied, seit 2017 Abgeordneter.

Friesen meint, die gleichgeschlechtliche Ehe sei falsch und die vielbeschworene "Islamisierung" real. Er wünscht sich ein Deutschland, in dem es gesittet und geordnet zugeht. Seine Herzensthemen sind Christ*innenverfolgung und Russland-Spätaussiedler*innen. Zum letztgenannten Themengebiet stellte er einmal drei Anfragen an nur einem Tag.

Die Kleinen Anfragen der AfD erwecken zunächst den Eindruck, die Partei würde sich vielfältig interessieren: Die 92 Abgeordneten stellen Anfragen über den Auszahlungszeitpunkt der Renten in Deutschland, über Tiertransporte, Stickoxidbelastung oder Maastrichtkriterien zum Euro. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass die Partei hauptsächlich ihre Kernthemen bedient: Migration, Zuwanderung, Geflüchtete, Terror.Etwa ein Viertel aller Kleinen Anfragen der Partei sind den Sachgebieten "Zuwanderung" oder "Ausländerpolitik" zugeordnet, wie der

Tagesspiegel recherchierte. Die Anfragen behandeln dann zum Beispiel 

Zurückweisungen an der deutschen Grenze, die

Anzahl von Asylbewerber*innen aus sicheren Drittstaaten, die 

Verantwortlichkeit für die Grenzöffnung am 4. September 2015 und

Tätigkeiten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Auch wenn die Anfragen andere Themenkomplexe behandeln, tauchen oft Schlagworte wie "Asyl", "Einwanderung" oder "Ausländer" auf. Eine Anfrage behandelt etwa vordergründig das Ausmaß von Schlachtungen ohne Betäubung, sogenannten Schächtungen. Während anfangs nach der Entwicklung jährlich geschächteter Tiere seit 1989 gefragt wird, lautet die letzte Frage: "Geht die Bundesregierung, aufgrund der Zunahme islamischer Einwanderung in den letzten Jahren, davon aus, dass die Zahl der Schächtungen in der Bundesrepublik Deutschland weiter zunehmen wird?" Eine andere Anfrage, in der es um eine Reform der Sozialsicherungen zu gehen scheint, schließt mit der Frage, ob die Bundesregierung beabsichtige, die "seit Jahrzehnten betriebene Politik fortzusetzen, mit Zuwanderungen die im Inland fehlenden Geburten ersetzen zu wollen", weil die "Geburtenrate der Zugewanderten höher ist als die der Deutschen".

Die AfD generiert mit Kleinen Anfragen Empörung und dadurch mediale Aufmerksamkeit

Was verspricht sich die AfD von solchen Anfragen? Was kann sie mit den Antworten anstellen? Oder geht es der Partei, entgegen Friesens Versicherung, am Ende doch darum, die Bundesrepublik beschäftigt zu halten?

Ein Vorwurf, der nicht neu ist: Abgeordnete im baden-württembergischen Landtag warfen der Partei 2017 vor, sie würde Kleine Anfragen instrumentalisieren, ziellos mit dem Werkzeug umgehen und nur die Verwaltung lähmen wollen.

Auch wenn die AfD nach außen argumentiert, sie würde das Mittel mit bestem Gewissen verwenden, bleibt ein fader Beigeschmack. Denn manchmal erzeugt die Partei allein mit einer Anfrage an sich enorme mediale Aufmerksamkeit. Im März brauchte sie nur sechs Fragen, um für einen Eklat zu sorgen. Vier Abgeordnete fragten bei der Bundesregierung nach, wie sich die Zahl der Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland entwickelt hätte. Sie fragten auch, wie viele "Fälle" durch Inzest entstanden seien und wie viele davon einen "Migrationshintergrund" hätten. Eine Farce. Sozialverbände kritisierten die AfD dafür scharf, das Thema beherrschte für einige Tage die sozialen Netzwerke. Die Kleine Anfrage sei abscheulich und menschenverachtend, empfanden viele. Alle sprachen über die AfD.

Solche Provokationen seien Kalkül, wie ein Parteimitglied, das unter anderem für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, ze.tt vertraulich sagt. So könne die AfD maximale Aufmerksamkeit generieren. Mehr Erfolg gibt es für eine politische Partei nicht: Mehr Aufmerksamkeit bedeutet mehr erreichte potenzielle Wähler*innen und mehr Stimmen. Und so steht die AfD laut aktueller Umfrageergebnisse sogar noch besser da als im März, als sie die Anfrage stellte.

Auch durch Friesen kam die AfD schon in die Schlagzeilen. Nach einer Kleinen Anfrage initiierte er im April einen Antrag, über den im Bundestag debattiert wurde. Friesen forderte, Christ*innenverfolgung zu sanktionieren. Er richtete sich hauptsächlich gegen muslimisch geprägte Länder. Der Antrag war hoch umstritten, wurde einstimmig abgelehnt und war dennoch ein Erfolg für die AfD, denn er verschaffte ihr mediale Aufmerksamkeit.

Ein Beschluss der Union geht auf Friesen zurück

"Mir geht es dabei nicht um Fließbandarbeit", sagt Friesen erneut auf die Frage, ob er die Regierung mit den vielen Anfragen nicht doch einer Beschäftigungstherapie unterziehen würde. Er schaue sich die Antworten der Regierung genau an und behandele sie auf fachpolitischer Ebene, indem er etwa Pressemitteilungen verfasse. Das stimmt zwar in vielen Fällen – doch die meisten Informationen aus den 38 Fragen, die er zur eingangs erwähnten Aserbaidschan-Anfrage erhielt, nennt Friesen in seiner Pressemitteilung zum Thema nicht.

Wir wissen, dass wir die Regierung vor uns hertreiben können" - Anton Friesen, AfD

Worum es Friesen vor allem gehe, sei die Regierung zu bewegen. "Wir wissen, dass wir die Regierung vor uns hertreiben können", sagt er, "indirekt, indem unsere Forderungen von ihr aufgegriffen werden." Friesen hat das bisher schon einmal geschafft. Er brachte die Union zum Beschluss, kriminelle Tschetschen*innen schneller abzuschieben – indem er eine Kleine Anfrage zum Thema stellte. Auf seiner Facebook-Seite feiert er sich selbst dafür: "AfD deckt auf, Union plagiiert. Zuerst war unsere Anfrage, dann die Reaktion der CDU."

Der Hintergrund dazu: Russland und Tschetschenien befinden sich seit Jahrhunderten in Konflikt, der unterem dazu führte, dass Tausende Kasach*innen in den 1990er-Jahren aus dem Land flüchteten – auch Friesens Eltern verließen mit ihm 1995 das Land. Sein Engagement für Spätaussiedler*innen und gegen Tschetschen*innen kommt also nicht von ungefähr. Die CSU versucht ihrerseits, die Wähler*innengruppe der Russlanddeutschen bei sich zu halten, die gerade in großen Teilen der AfD zuwandert. Mutmaßlich griff sie Friesens Anfrage deshalb auf.

Wer glaubt, CDU und CSU würden sich thematisch gefühlt an die AfD annähern, liegt richtig. Der AfD gelingt es nachweislich, die Regierung zu beeinflussen. Unter anderem durch Kleine Anfragen wie die von Friesen.

Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs sitzt eine Partei im Bundestag, die offen rassistisch aufritt. Wir meinen: Die AfD hat bereits die größtmögliche Bühne. Deshalb durchleuchten wir ihre Anträge, Redebeiträge und Personalien. In unserer Reihe "AfD-Watch" wollen wir herausfinden, wie die Partei den deutschen Alltag verändert.