Wir sind auch Menschen. Wir haben auch Gefühle. Es tut uns weh, wenn wir Landstreicher genannt werden, Heimatlose."

Dieses Zitat von einem Sprecher der myanmarischen Rohingya in Human Flow trifft auf den Punkt, was Ai Weiwei mit seinem Film ausdrücken möchte. Auf der Welt sind schätzungsweise 65 Millionen Menschen auf der Flucht aus ihrer Heimat. Ihre Gründe sind meist die gleichen: Krieg, Hunger, Klimawandel, das Streben nach einem besseren Leben.

Doch eines wird dabei oft vergessen: In diesen 65 Millionen Menschen stecken 65 Millionen unterschiedliche, individuelle Seelen. Das muss man sehen, um das wirkliche Ausmaß der Fluchtbewegungen verstehen zu können.

Ai Weiwei porträtiert diese Seelen in seinem neuen Film, der seit vergangener Woche im Kino zu sehen ist und gibt ihnen eine Stimme. Damit nähert er sich einem der relevantesten Themen der aktuellen Menschheitsgeschichte mit dem Respekt, den es braucht.

"Grenzen halten nur die armen Menschen auf"

Ai Weiwei, der selbst seine Heimat China verlassen musste und jetzt in Berlin lebt und arbeitet, besuchte mit seinem Team über 40 Geflüchtetencamps in 23 Ländern, darunter in Jordanien, der Türkei, Griechenland, Bangladesch, Deutschland.

Wir, die Zuschauenden, sind dabei, wie afrikanische Flüchtende übers Mittelmeer auf Lesbos ankommen, wie Menschen in Idomeni versuchen, dem gnadenlosen Regen zu widerstehen. Wir bekommen mit, wie die rund 85 Prozent aller syrischen Geflüchteten in gigantischen jordanischen Flüchtlingscamps leben und dort funktionierende Ökosysteme aufbauen. Wir besuchen mit einem kurdischen Familienvater die Gräber seiner Freund*innen, die auf der Flucht ihr Leben verloren, und sind dabei, wenn das Militär den sogenannten Dschungel von Calais in Frankreich räumt. Wir spüren den Frust junger Menschen im Gaza-Streifen, die sich radikalisieren und sich an irgendjemandem für ihr Leid rächen wollen.

Das Jahr 2015, in dem Europa erstmals mit massiven Fluchtbewegungen konfrontiert wurde wie seit Jahrzehnten nicht mehr, scheint mittlerweile weit weg. Politische Deals wie der mit der Türkei, die sich verpflichtete, Geflüchtete, die auf dem Seeweg nach Europa gelangen, zurückzunehmen und enorme Grenzzäune wie in Ungarn und Afrika lassen das Thema aus unserer Wahrnehmung verblassen. Aber immer noch sind schätzungsweise über 56.000 Menschen täglich dazu gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen.

Dazu zeigt Ai Weiwei schwer verdauliche Fakten wie: Als 1989 die Berliner Mauer fiel, waren elf Länder weltweit von Grenzzäunen- und mauern eingeschlossen. Im vergangenen Jahr, 2016, hatten bereits 70 Länder solche Einrichtungen gebaut. Diese Grenzen, so sagt Ai Weiwei in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, würden nur arme Menschen aufhalten: "Für Reiche gelten sie nicht."

Ist das fair?

Die Kritik nach oben ist in Human Flow nie aufdringlich, aber durchgängig präsent. Die Ursachen für die massenhafte Flucht sind uns ja doch allen bewusst. Ai Weiwei macht aus politischen Fragen lieber menschliche. Er prangert unseren Umgang mit den Geflüchteten an, die ihr altes Leben verließen, um ein besseres zu finden. Nichts sei eine größere Strafe für Menschen, ihrer Heimat entrissen zu werden, um dann festzustellen, dass ihnen nirgends auf der Welt wirklich geholfen werden will, geschweige denn ein Lächeln geschenkt.

Ist es wirklich fair, dass Hunderte geflüchtete Menschen in Paris dicht aneinander gepfercht unter einer Bahnbrücke zwischen Urin und Müll schlafen, während sich im Haus nebenan zwei Menschen eine 100-Quadratmeter-Wohnung teilen? Das zu beantworten, überlässt Ai Weiwei uns selbst.

Die Aufnahmen von vielen unterschiedlichen Orten der Welt, oft mithilfe von Drohnen gedreht, sind apokalyptisch und teilweise atemberaubend. Fast möchte man sagen: Selten war ein Film über Leid so ästhetisch. Dabei ist das kein Widerspruch. Über allem, was wir, die Zuschauenden in dem Film sehen, steht der eine Gedanke, dass wir alle auf einem wunderschönen Planeten leben – und lediglich lernen müssen, ihn zu teilen.

Diese Erkenntnis lässt den Film trotz der teilweise schwer zu ertragenden Schicksale der Geflüchteten zu einem durchwegs positiven Appell werden. Human Flow ist nicht weniger als ein eindringlicher Aufruf zu Menschlichkeit, Empathie und Solidarität. Es ist eben nicht alles aussichtslos. Wir können etwas tun. Der erste Schritt: hinsehen.