Die Liste ist lang: Das Rettungsschiff der Mission Lifeline liegt derzeit im Hafen von Malta an der Kette. Die Sea-Watch in Südfrankreich. Proactiva Open Arms und SMH in Spanien. Die Iuventa in Italien. Ärzte ohne Grenzen sah sich Ende 2018 gezwungen, das Engagement im Mittelmeer zu beenden, nachdem das gemeinsam mit SOS Mediteranee betriebene Rettungsschiff Aquarius lange Zeit nicht auslaufen durfte. Save the Children hat die Einsätze ebenfalls eingestellt.

Als zivile Seenotretter*innen haben die Crews dieser NGOs zehntausende Menschen vor dem Ertrinken bewahrt. Eine von ihnen ist Pia Klemp, die erst an Bord der Iuventa Einsätze fuhr, später dann als Kapitänin der Sea-Watch 3. Im Moment kann sie allerdings nicht zur See. Ihre Anwält*innen haben ihr davon abgeraten. Denn gegen Klemp wird in Italien ermittelt, wegen des Verdachts auf Beihilfe zu illegaler Einwanderung. Sollte sie nochmal zu einem Rettungseinsatz auf das Mittelmeer fahren, droht ihr Untersuchungshaft.

Pia Klemp drohen bis zu 20 Jahre Haft

Von den Ermittlungen gegen sie hat die 35-Jährige aus Bonn aus der italienischen Presse erfahren. Dort wurden sogar Namen und Adressen von Mitgliedern ihrer Iuventa-Crew veröffentlicht. Deren Rettungsschiff hatten italienische Behörden im August 2017 vor Lampedusa beschlagnahmt, dazu Laptops und Handys, die an Bord waren. Ob die Geräte ausgelesen werden dürfen, soll Ende Mai entschieden werden. Doch dieser Termin sei zuvor schon viermal verschoben worden, sagt Pia Klemp. Aus den Akten weiß sie, dass mindestens vier verschiedene italienische Ermittlungsbehörden gegen sie und ihre Mitstreiter*innen gearbeitet haben, darunter auch der italienische Geheimdienst. Ebenfalls bekannt: Ihr Schiff wurde verwanzt, ihre Telefone abgehört, es gab Spitzel auf anderen Schiffen, die sie beobachteten.

Pia Klemp ist keine Ausnahme. Sie steht vielmehr exemplarisch dafür, wie Regierungen versuchen, die Arbeit von NGOs im Mittelmeer lahmzulegen. Im Falle einer Verurteilung drohen Pia Klemp bis zu 20 Jahre Haft. Ein weiterer Fall: Der Lifeline-Kapitän Claus-Peter Reisch, der in Malta angeklagt ist. Ihm werfen die dortigen Behörden vor, sein Schiff nicht ordnungsgemäß registriert zu haben. Die Verhandlung soll kommende Woche fortgesetzt werden. Bis das Urteil fällt, bleibt die Lifeline beschlagnahmt. Die Abschreckung funktioniere, sagt Pia Klemp. Derzeit sei kaum noch ein ziviles Rettungsschiff im Mittelmeer im Einsatz.

Und staatliche Programme zur Seenotrettung? Die EU hat diese Woche bekannt gegeben, die Marine-Operation Sophia fortan ohne Schiffe zu betreiben und die See nur noch aus der Luft zu beobachten. Dass die Mission nun nach dreieinhalb Jahren praktisch vor dem Aus steht, liegt nicht zuletzt an der rechten Regierung Italiens, der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega von Innenminister Matteo Salvini. Sie drängt auf eine Verteilung der Geflüchteten auf alle EU-Mitgliedsstaaten. Doch dafür sei im Europäischen Rat keine Lösung in Sicht, ließ die EU-Außenbeauftragte Frederica Mogherini über ihre Sprecherin verkünden. Deutschland hatte bereits Anfang 2019 beschlossen, keine Schiffe der Bundeswehr mehr für Einsätze der Operation Sophia zur Verfügung zu stellen.

Was sage ich einer traumatisierten Frau, deren totes Kind in meinem Kühlschrank liegt, über die Friedensnobelpreisträgerin EU?
Pia Klemp

Dabei ist die Mittelmeerroute laut Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) gefährlicher denn je. Die Todesrate der Menschen, die versuchen, von Libyen über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, hat sich in der ersten Jahreshälfte 2018 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Im Durchschnitt überlebt laut UNHCR eine*r von 18 Menschen die Flucht nicht.

Und gleichzeitig kommen immer weniger Menschen über das Mittelmeer. Das liegt unter anderem daran, dass dort nun die sogenannte libysche Küstenwache patroulliert und Boote mit Geflüchteten zurückholt – mit Unterstützung der EU. Eine Studie der Organisation Women's Refugee Commission (WRC), die in dieser Woche veröffentlicht wurde, berichtet von einem dramatischen Ausmaß und einer Zunahme brutalster Übergriffe, Folter und sexualisierter Gewalt gegen Migrant*innen in Libyen.

Für die Studie sprachen Vertreter*innen von WRC mit Überlebenden und Helfer*innen in Italien. "Wir waren das Auge der Öffentlichkeit dafür, was dort passiert", sagt Pia Klemp. Auch das sei nun nicht mehr möglich. Für Klemp ist die Debatte um Seenotrettung und den Umgang mit Geflüchteten wieder bei der ganz grundsätzlichen Frage angelangt, wer sich auf die Menschenrechte berufen kann und wer nicht. Sie sagt: "Menschenrechte sind nicht bloß zu unserem persönlichen Vorteil da. Sie sind eine Verpflichtung. Wenn Menschenrechte nicht für alle gelten, gelten sie für keinen."

Horst Seehofers "Geordnete-Rückkehr-Gesetz"

Auch in Deutschland drohen Fluchthelfer*innen kriminalisiert zu werden: Innenminister Horst Seehofer hat einen Gesetzesentwurf verfasst, wonach das Veröffentlichen von Abschiebeterminen mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden soll. Abschiebungen sollen so nicht "beeinträchtigt" werden, heißt es im sogenannten "Geordnete-Rückkehr-Gesetz". Unterstützung erhält Seehofer dafür unter anderem von Hans-Eckard Sommer, dem aktuellen Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Der Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl, der an der Universität Kassel zur EU-Migrationspolitik forscht, verwies in einem Blogeintrag darauf, dass Seehofers Pläne rechtsstaatliche Prinzipien missachten. Denn die so kriminalisierten Helfer*innen würden schließlich mit dem Veröffentlichen von Abschiebeterminen dazu beitragen, den Rechtsschutz zu gewährleisten, der Menschen zusteht. Hintergrund ist, dass seit dem Asylpaket I von 2015 den Betroffenen Abschiebetermine nicht mehr angekündigt werden. Unerwartete Abschiebungen in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden seien damit zur Regel geworden, so Pichl. Für die Betroffenen sei es dann schwierig, in der Kürze der Zeit Rechtsbeistand zu organisieren und Beschwerde gegen die Abschiebung einzulegen.

Die Systematik hinter dem Leid

Was Pia Klemp nachhaltig beschäftigt, ist die Systematik hinter dem individuellen Leid. Das Gewollte, wie sie sagt. Erst vergangene Woche war sie bei einem NGO-Treffen im Europaparlament. Dort berichtete sie von einem Erlebnis auf See, als sie tagelang mit einem zweijährigen toten Jungen im Kühlraum des Schiffes in internationalen Gewässern auf und ab fahren musste, weil sich kein europäisches Land bereit erklärte, das Schiff einlaufen zu lassen. Die Mutter des Jungen sei auch an Bord gewesen, lebendig. "Was sage ich einer traumatisierten Frau, deren totes Kind in meinem Kühlschrank liegt, über die Friedensnobelpreisträgerin EU?", fragt Pia Klemp. Das Thema Seenotrettung spiele für viele EU-Vertreter*innen kaum eine Rolle, auch nicht mit Blick auf die anstehenden Europawahlen am 26. Mai.

Im Moment bereitet sich Pia Klemp mit ihren Mitstreiter*innen des Kollektivs Solidarity at Sea auf den drohenden Prozess vor, sammelt Geld. Laut ihrer Anwält*innen sei in der zweiten Jahreshälfte mit der Anklage zu rechnen. Das Verfahren selbst könnte dann mehrere Jahre dauern und mehrere hunderttausend Euro kosten. Für Pia Klemp ein politischer Schauprozess – und ein möglicher Präzedenzfall.