"Ich lade in diese Show nur lustige und coole Comedians ein", protzt Chris Tall in seiner Serie Chris Tall Presents, die seit September bei Amazon Prime läuft. Ein Blick in die Kund*innen-Rezensionen lässt daran zweifeln, ob dieses Ziel erreicht wurde: Der Großteil der Rezensent*innen hat der Show nur einen von fünf Sternen gegeben und Bewertungen geschrieben wie: "Geschmacklos", "Zeitverschwendung" oder "Kein Amazon Prime Niveau". Das dürfte Amazon dann doch ärgern, denn Chris Tall Presents ist immerhin das erste deutsche nicht-fiktionale Original von Amazon Prime.

Mit Chris Tall hat sich Amazon für einen sehr fragwürdigen, um nicht zu sagen den falschen Host entschieden: Seine Bekanntheit gründet vor allem auf dumpfen, politisch inkorrekten Sprüchen und diversen Skandalen, die dem jungen Comedian jedes Mal einen Shitstorm, aber auch größere Bekanntheit bescherten. Zum Beispiel moderierte er 2017 eine Show in Köln mit den Worten "Lasst uns die Bude abfackeln – jetzt ist Chris-Tall-Nacht!" an. Dass jemand, der mit solchen Sprüchen aufwartet, das erste deutsche nicht-fiktionale Amazon Prime Original moderiert, ist besorgniserregend.

Chris Tall will der politisch inkorrekte Rebell sein

"Ey, ihr müsst Witze machen über alle: über Behinderte, über Schwule, über Schwarze ...", fordert Chris Tall sein Publikum auf. Das war 2015 während jenes Auftritts bei TV Total, der ihn bekannt machte. Die Idee hinter Chris Talls Forderung ist weder originell noch neu. Sie geht zurück auf ein Zitat von Kabarettist Herbert Feuerstein. Jede*r habe ein Recht verarscht zu werden, sagte dieser mal. Seitdem wird diese Satire-Regel von Comedians immer wieder herangezogen, um ihre diskriminierenden Pointen zu rechtfertigen. Auch von Chris Tall. Allerdings ist Chris Talls Liste derer, über die man Witze machen müsse, unvollständig. Bezeichnenderweise vergisst er Nicht-Behinderte, Heterosexuelle und Weiße. Warum bloß?

Zu viele Leute hätten einen Stock im Arsch, klärt uns Chris Tall bei TV Total auf, und würden sich bei jedem Witz fragen: "Darf er das?" Diese Frage, natürlich rein rhetorisch gemeint, ist seitdem Chris Talls Motto. Der Comedian im Teenager-Look will um jeden Preis der politisch inkorrekte Rebell der deutschen Comedy-Szene sein und teilt dafür gegen jede von Diskriminierung betroffene Gruppe aus, die ihm einfällt. Egal ob gegen Menschen im Rollstuhl: "Bist du etwas besseres, nur weil du nicht gehen musst?" oder Männer of Color: "Großer Penis, rennt schnell." Hauptsache politisch inkorrekt. Sexismus ist ebenfalls sein Markenzeichen: Frauen bezeichnet er als "Menschen mit Menstruationshintergrund".

Auch in seiner neuen Show Chris Tall Presents trägt er eine umgedrehte Baseballkappe mit der Aufschrift: "Darf er das." – mit Punkt statt mit Fragezeichen – und macht wie gewohnt seine diskriminierenden Witze. So witzelt er in der zweiten Folge über eine Frau: "Halb Polin, halb Russin, da sind Auto und Wodka weg." Oder er erzählt in in der ersten Folge: "Ich nenne sie (meine Freundin) immer nur Puppe – einfach weil sie eine ist."

Was wäre Chris Tall ohne seine diskriminierenden Pointen?

Stellen wir uns für ein Gedankenexperiment einen Chris Tall ohne diskriminierenden Pointen vor. Was bliebe übrig? Ein junger Mann mit Kapuzenjacke und Baseballkappe, der uns Anekdoten von seinem letzten Urlaub auf Malle und dem letzten Serien-Abend mit seiner Freundin erzählt. Jetzt verstehen wir, warum Chris Tall seine rassistischen, sexistischen und behindertenfeindlichen Witze reißt: Weil er sonst nichts hat.

Das gilt für die ganze Show: Gäbe es bei Chris Tall Presents keine diskriminierenden Pointen, blieben nur belanglose Anekdoten übers Daten, Urlauben, Saunieren und Fliegen übrig. Und so suchen auch die Gäste, übrigens ausnahmslos Männer, verzweifelt nach politisch inkorrekten Pointen und Beleidigungen, um die Show als rebellisch und unbequem zu verkaufen. Simon Pearce, der in Folge 2 auftritt, formuliert das Motto der Show folgendermaßen: "Humor darf auch diese Grenzen der politischen Korrektheit überschreiten." Aber wofür? Bei Chris Tall Presents ist Political Incorrectness Vermarktungsstrategie. So zieht zum Beispiel Masud Akbarzadeh über Kassiererinnen an der Supermarktkasse her: "Normalerweise sind das immer etwas ältere, dickere Frauen. (…) Die sehen alle aus wie Profi-Bowlerinnen, weißt du?" Oder Tutty Tran über Jugendliche, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei eingewandert sind: "Da waren so drei Jugendliche (…) So richtige Kanakenkinder, wisst ihr?"

Empowerment für die Falschen

Dabei will ich gar nicht in die von Chris Tall ausgelegte Falle des "Dürfen die das?" tappen. Die diskriminierenden Witze in Chris Tall Presents, so geschmacklos sie sind, fallen wohl alle unter die von Artikel 5 des Grundgesetzes gesicherte freie Meinungsäußerung. Aber entbindet dieses Recht Comedians von einer moralischen Verantwortung? Comedians, die Witze über von Diskriminierung betroffene Gruppen reißen, sollten sich fragen: Kritisiere ich durch meinen Witz Diskriminierung in unserer Gesellschaft oder reproduziere ich diese nur? Bei Chris Tall Presents kommen die politisch inkorrekten Sprüche ohne doppelten Boden und zweite Ebene. Zuschauer*innen, die diese Vorurteile, Klischees, Sexismen und Rassismen wirklich im Kopf haben, können hier problemlos mitlachen, ohne sich in ihrer Denke hinterfragen zu müssen. Nein, sie werden sogar in ihren Klischees bestärkt.

Die Comedians normalisieren Beleidigungen und diskriminierende Sprüche – auch jenseits der Bühne. Die Message der Show, wie immer bei Chris Tall: "Alle, die über diese Sprüche nicht lachen, haben einen Stock im Arsch." Das ist gefährlich: Dieser Logik nach macht nicht der*diejenige einen Fehler, die*der einen diskriminierenden Spruch von sich gibt, sondern die*derjenige, der*die nicht drüber lacht. Jeder*r, der*die auf dem Schulhof, im Internet oder im Büro Bock hat, einen diskriminierenden Spruch zu drücken, und sein*ihr Opfer erdreistet sich nicht mitzulachen, wird sich gerne an die Lehren von Chris Tall Presents erinnern und sagen: "Nimm mal den Stock aus deinem Arsch. Sei mal nicht so verklemmt." Die Show liefert Empowerment für die Falschen, nämlich für die Mobber*innen und Spötter*innen. Liebes Amazon Prime, braucht die Welt das? Das war rhetorisch gemeint. Also: Bitte absetzen.