Für Jakob* fingen die Probleme an, als er erwähnte, dass er Jude ist. Der Anfang 20-Jährige besucht zu diesem Zeitpunkt erst seit wenigen Wochen eine berufsbildende Schule in einer deutschen Großstadt. Eine Mitschülerin äußert sich ihm gegenüber daraufhin wiederholt antisemitisch.

Sie verdreht die Augen, wenn er sich im Religionsunterricht oder zu Themen wie Rechtsextremismus und Antisemitismus meldet. Sie spricht ihn mit "Ey, Jude" an oder fordert ihn auf, seine "jüdische Scheiße" sein zu lassen. Als er sie bittet, weniger aggressiv aufzutreten, bedroht sie ihn, sie würde ihm schon zeigen, was Aggressionen seien, sagt sie, Auschwitz sei ein Kindergarten dagegen. Sie zeigt ihm Fotos von einem Freund, der berufsbedingt Zugang zu Waffen hat. Sagt, ihre Freunde würden ihn nach der Schule fertig machen.

Jakobs Geschichte ist kein trauriger Einzelfall, sondern Normalität für viele jüdische Kinder und Jugendliche an öffentlichen Schulen. Das zeigte zuletzt eine qualitative Studie der Soziologin Julia Bernstein, die mit ihrem Team 251 Betroffene, Lehrer*innen und Akteur*innen aus der Bildungs- und Sozialarbeit zu ihren Erfahrungen interviewte. "Die Schule ist ein Mikrokosmos der Gesamtgesellschaft", sagt Bernstein. In diesem spiegele sich die Kontinuität, Zunahme und Bagatellisierung des Antisemitismus der Gesamtgesellschaft wider – demnach seien auch alle Formen des Antisemitismus, die in der Gesellschaft vorherrschen, ebenfalls an Schulen zu beobachten.

Welche Formen von Antisemitismus dominieren an Schulen?

Die Beschimpfungen, mit denen Jakob diskriminiert wurde, erleben viele jüdische Schüler*innen ähnlich. Zum Beispiel den Auschwitz-Vergleich, der sich in die Kategorie des sogenannten Post-Shoah-Antisemitismus einordnen lässt. Dabei werden Naziverbrechen glorifiziert, geduldet oder bagatellisiert. Wie kommt es, dass diese Variante unter Schüler*innen so verbreitet ist?

"Viele Schülerinnen und Schüler wehren die Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Nationalsozialismus ab, weil sie meinen, in keinem Verhältnis dazu zu stehen", so Bernstein. Für viele sei das Thema emotional von der möglichen Beteiligung eigener Familienangehöriger entkoppelt, etwas Abstraktes, das nichts mit der eigenen Biografie zu tun habe. "Gleichzeitig wissen die meisten nichtjüdischen Familien ohne Migrationshintergrund sehr wenig über ihre persönliche Geschichte, also von den Taten der Groß- und Urgroßeltern", sagt Bernstein. "Es ist sehr schwer, das Schreckliche, was man in den Geschichtsbüchern liest, mit seiner eigenen Familiengeschichte in Verbindung zu bringen."

Ganz anders sei es jedoch für jüdische Schüler*innen. Bernsteins Studie ist die erste zum Thema Antisemitismus an Schulen, bei der die Erfahrungen von Jüdinnen*Juden im Vordergrund stehen. In betroffenen Familien seien Shoah und Nationalsozialismus nichts Abstraktes, sondern etwas Lebendiges. "Das waren reale Menschen, die nicht mehr leben, die man gerne kennengelernt hätte", sagt Bernstein. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen der Shoah erschwere die Kommunikation zwischen jüdischen und nichtjüdischen Jugendlichen.

Hinzu komme, dass es bei vielen nichtjüdischen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund eine Sehnsucht nach einer positiven persönlichen, familiären und nationalen Identität gäbe. Die bloße Anwesenheit von Jüdinnen*Juden löse ein Streben danach aus, Schuld und Erinnerung abzuwehren, sich selbst und die eigene Geschichte zu entlasten. Dieses Bedürfnis führe häufig zur Abwertung jüdischer Menschen und einer Täter-Opfer-Umkehr. An dieser Stelle knüpft der sogenannte israelbezogene Antisemitismus an, laut Bernstein eine der häufigsten Formen von Jüdinnen*Judenfeindschaft im Schulkontext.

Israel ist der Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt, wenn Antisemitismus unerträglich wird.
Julia Bernstein

Indem man im Kontext des Nahostkonflikts die Täter*innenschaft "den Juden" stellvertretend für Israel zuweisen könne, sei eine Entlastung möglich, da man als nicht-jüdischer Deutsche*r ohne Migrationshintergrund sagen könne: Nicht nur unsere Vorfahren sind zu Monstern geworden, sondern das passiert andauernd, und bei Jüdinnen und Juden auch, so Bernstein. Dass man aus Israelis Nazis mache und Israel zum Täter*innenstaat erkläre, habe eine klare Funktion: "Man verschiebt den Fokus von sich auf  'die Juden', die jetzt eben Israelis heißen."

Für Bernstein zeugt dies davon, dass man sich weder mit der Geschichte auseinandergesetzt hat, noch versteht, was jüdisches Leid bis heute bedeutet. Die meisten Jüdinnen und Juden in Deutschland müssten ihre Identität in der Öffentlichkeit weiterhin verbergen. Wer seine jüdische Identität auslebe, stoße schnell auf Probleme. "Das ist die Realität im Jahr 2020", sagt Bernstein. "Israel ist der Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt, wenn Antisemitismus unerträglich wird."

Das Jüdischsein verheimlichen?

Viele Schüler*innen beschäftigen sich mit der Frage, ob sie sich in ihrer Klasse als jüdisch zu erkennen geben sollen. Für Jakob war dies lange kein großes Thema. Er kommt aus einer bireligiösen Familie, sein Vater ist Christ, seine Mutter Jüdin. Jakob trägt keine Kippa, geht maximal zweimal im Jahr in die Synagoge und würde sich nicht als religiös bezeichnen. Seitdem er etwa 13 Jahre alt ist, interessiert ihn das Thema Gott nicht mehr. Zu dem Zeitpunkt dachte er, sich nicht als Jude zu identifizieren, weil das für ihn eine Religionszugehörigkeit bedeutete. Daraufhin merkte er jedoch schnell, dass es keine Rolle spielt, wie er sich sich selbst identifiziert: "Ob ich religiös bin oder nicht spielt bei Antisemitismus keine Rolle, weil andere Leute das Jüdischsein unabhängig davon wahrnehmen und darauf reagieren."

Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen.
Hannah Arendt

"Ich kann sagen, ich bin Atheist, oder auch, ich bin in Deutschland geboren, aber das ist kein wirksames Argument gegen antisemitisches Denken. Ich werde nicht angegriffen, weil ich Deutscher oder Atheist bin, sondern weil ich jüdische Vorfahren habe", sagt Jakob. Seine politische Identifikation als Jude entstand erst als Reaktion auf seine Umwelt – als Antwort auf Anfeindungen. "Irgendwann habe ich akzeptiert, dass ich daran nichts ändern kann. Ich nehme es an und gehe damit verhältnismäßig offen um, auch wenn es natürlich Kontexte gibt, in denen ich mein Jüdischsein nicht erwähnen würde." Jakob zitiert Hannah Arendt, die 1964 in einem Interview sagte: "Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen."

Unter Generalverdacht: Muslim*innen und Migrant*innen

Liest man sich die Medienberichte zu antisemitischen Vorfällen an Schulen durch, drängt sich schnell der Eindruck auf, dass die Täter*innen überwiegend muslimische Jugendliche oder Schüler*innen sind, deren Vorfahren aus dem arabischen Raum stammen. Auf diese Beobachtung hat Saba-Nur Cheema zwei Antworten. Die Politikwissenschaftlerin arbeitet in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt unter anderem mit muslimischen Jugendlichen zum Thema Antisemitismus. "Die eine Antwort ist, dass wir sehr schnell sagen: Ah, das ist ein Problem von Migrant*innen oder Muslim*innen. Diese Strategie entlastet die Mehrheitsgesellschaft sehr stark." Studien zeigen hingegen, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist.

"Die andere Antwort ist, dass sich im migrantischen und muslimischen Milieu Antisemitismus zwar nicht unbedingt stärker, aber anders äußert", sagt Cheema. Der Israel-Palästina-Konflikt sei dabei ein großes Thema. Verschwörungsideologien, die aus den Herkunftsländern der Eltern oder Großeltern stammten, vermischten sich mit antisemitischen Ideen, die es in Deutschland ohnehin gebe: "Wir müssen uns mit den Ausdrucksformen von Antisemitismus in migrantischen oder muslimischen Milieus auseinandersetzen", sagt Cheema. Das Phänomen nicht zu benennen, sei der falsche Weg.

Cheema kritisiert, dass beim Thema muslimischer Antisemitismus vonseiten der Pädagog*innen häufig auf pauschalisierende Weise über Muslim*innen und Migrant*innen gesprochen würde. Also in dem Stil: Muslim*innen sind Antisemit*innen. Diese Zuschreibung folge einer rassistischen Logik, da sie ein ganzes Kollektiv unter Antisemitismusverdacht stelle. Antisemitische Äußerungen von nichtmigrantischen Jugendlichen würden hingegen häufig als individuelle Entgleisung und zwischenmenschliches Problem eingeordnet werden, so Cheema. Diese Erfahrung zeige, dass antisemitismus- und rassismuskritische Bildungsarbeit nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für Lehrkräfte wichtig sei.

"An unserer Schule gibt es keinen Antisemitismus"

In ihrer Studie kommt Julia Bernstein zu dem Fazit, dass viele Lehrkräfte Antisemitismus als vermeintlich überwundenes Phänomen betrachten und im Schulalltag weder erkennen noch ernst nehmen. Auch Jakob musste diese Erfahrung machen. Nachdem er von seiner Mitschülerin bedroht wurde, wendet er sich an die Schulpädagogin, die ein Gespräch mit ihm, der Mitschülerin und zwei zuständigen Lehrerinnen organisiert. "Es fühlte sich schnell so an, als würden die Lehrerinnen denken, dass es sich bei dem Konflikt um einen Streit zwischen Kindern handelt", sagt Jakob. Es fielen Sätze wie: 'Jetzt lassen wir mal dieses Antisemitismus-Thema weg'. "Dabei war das der Grund, weshalb ich um das Gespräch gebeten hatte", so Jakob. "Am Ende mussten wir uns sogar die Hände geben."

Mit Schweigen legitimiert man Antisemitismus.
Julia Bernstein

Laut Bernstein ist dieser Versuch, antisemitische Vorfälle als Konflikt zwischen zwei Parteien zu sehen, die beide Mitschuld an dem Konflikt tragen und die es zusammenzubringen gilt, die häufigste Reaktion vonseiten der Lehrkräfte. Die Soziologin hält dies für einen Fehler. "Diese Herangehensweise lenkt von dem eigentlichen Vorwurf des Antisemitismus ab. Mit Schweigen legitimiert man Antisemitismus oder die Ansicht, dass Antisemitismus nicht so schlimm ist."

Ursachen für diese Handlungsstrategie gebe es viele. Beispielsweise Angst um den Ruf der Schule. Dass Lehrkräfte Wissensdefizite aufweisen. Dass sie vielleicht selbst antisemitische Ansichtsweisen vertreten. Dass sie Antisemitismus nicht erkennen, weil die Beleidigung "Du Jude" nicht an eine*n jüdische*n Mitschüler*in gerichtet war. Dass antisemitisches Fehlverhalten als pubertäre Provokation durchgehe. Oder beispielsweise israelbezogener Antisemitismus als verständliche Meinung abgetan werde. "Man möchte sich nicht einmischen und wählt eine vermeintlich neutrale Position, anstatt die Opfer der antisemitischen Gewalt zu schützen", sagt Bernstein.

Jüdische Schüler*innen werden oft nicht ausreichend geschützt

Klare Zeichen seien für Betroffene unglaublich wichtig und zwar sowohl seitens der Lehrkraft als auch aus der Schüler*innenschaft, so Bernstein. Deren Reaktion präge die betroffene Person mindestens so stark wie die Tat selbst. "Häufig ist man von der schweigenden Mehrheit noch viel mehr gekränkt als von der am Vorfall beteiligten Person selbst. Im schlimmsten Fall verlässt man dann die Schule, wenn man diese Situation nicht mehr ertragen kann."

Jakob, der eigentlich anders heißt, möchte in diesem Beitrag auch deshalb anonym bleiben, weil es für ihn nicht die Möglichkeit gibt, an eine andere Schule zu wechseln. Ihm wurde ein Klassenwechsel vorgeschlagen. "Aber warum soll ich die Klasse wechseln, wenn ich mich nicht falsch verhalten habe?", fragt er. Jakob bereut es trotz des enttäuschenden Gesprächs nicht, die Vorfälle gemeldet zu haben. "Ich finde es wichtig, dass Betroffene ihre Perspektive kommunizieren, um die Missstände überhaupt sichtbar zu machen. Weil natürlich Menschen, die nicht jüdisch sind, selten persönliche Erfahrungen damit machen, wie es ist, in Deutschland mit jüdischem Background aufzuwachsen."

Wie sollte man als Lehrkraft oder Schüler*in reagieren?

Was hätten Jakobs Lehrkräfte besser machen können? "Ich glaube, man muss Antisemitismus in erster Linie nicht bei den anderen, sondern bei sich selbst suchen", sagt Julia Bernstein. Jüdinnen*Judenfeindlichkeit könne aus kleinen Dingen bestehen, beispielsweise bestimmten Sprüchen oder Symbolen. "Man muss den Mut haben, sich dem zu stellen. Gerade als Lehrkraft sollte man sich nicht als unfehlbares, verbeamtetes Wesen sehen, sondern als lernende Person mit einer zuhörenden Haltung den Betroffenen gegenüber. Man muss eigene Fehler oder auch Unwissen in Bezug auf antisemitisches Denken zugeben und eigene Unsicherheiten in den Raum stellen können."

Die Würde von Menschen ist viel wichtiger als eine Mathearbeit.
Julia Bernstein

Der zweite Schritt sei es, einen gemeinsamen Raum zu kreieren, in dem Schüler*innen nicht daran interessiert seien, sich gegenseitig mit Worten zu kränken, die Menschen ausschließen und diskriminieren. Dafür müssten Kommunikationsregeln festgelegt und diese konsequent durchgesetzt werden. Für Lehrkräfte und Schüler*innenschaft bedeutet dies: Nicht wegschauen, sondern eingreifen. "Ich glaube, es geht um Würde und Respekt, was nicht nur abstrakt sondern konkret gelebt werden muss", sagt Julia Bernstein. "Die Würde von Menschen ist viel wichtiger als eine Mathearbeit."

* Name von der Redaktion geändert.