Du liegst auf einem Sandstrand im Schatten einer Palme, das Meer rauscht und die Zikaden singen. Hast du ein klares Bild vor Augen? Hörst du die unterschiedlichen Geräusche und riechst die typischen Sommergerüche? Wenn du dir das nur schwer oder gar nicht vorstellen kannst, leidest du womöglich an Aphantasia.

Die kognitive Visualisierung geschieht in einem Netzwerk verschiedener Regionen im Gehirn. Frontal-, Parietal, Temporal- und Okzipitallappen leisten dazu eine ganze Menge Arbeit. Mithilfe von abgespeicherten Erinnerungen, generieren sie Bilder in unseren Köpfen. So deutlich, dass wir sie mühelos beschreiben könnten. Warum können das manche Menschen nicht?

Die Gründe dafür sind noch weitgehend unbekannt. Wissenschaftler*innen gehen aber davon aus, dass es ein Defekt in eben diesen Hirnregionen sein muss, der Aphantasia zur Folge hat.

Das ist nicht nur für Laien schwer nachzuvollziehen, sondern auch für Forschende. Mit ein Grund, warum die Beeinträchtigung bislang noch sehr wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Dabei hat der britische Naturforscher Sir Francis Galton das Phänomen bereits im Jahr 1880 identifiziert.

Während die Bildersymbolik für die meisten ein unverzichtbarer Bestandteil des Alltags ist – sei es, um Erinnerungen abzurufen, tagträumend durch die Stadt zu schlendern, oder um sich kreativen Tätigkeiten hinzugeben –, wissen manche gar nicht, dass andere so etwas können. Jeder 50. soll davon betroffen sein. Dabei geht es nicht allein um das Vorstellen fiktiver Szenen, sondern auch um das Erinnern tatsächlich erlebter Momente.

Per Zufall zur Diagnose

In jüngeren Forschungen wurde das Thema per Zufall erneut aufgegriffen. Im Jahr 2010 kontaktierten 21 Personen Adam Zeman, Professor der Kognitions- und Verhaltensneurologie an der University of Exeter Medical School, nachdem er und sein Forschungsteam zuvor einen wissenschaftlichen Beitrag im Discover Magazine veröffentlicht hatten. Darin ging es um einen 65-jährigen Mann, der nach einer Herzoperation angab, sein Vorstellungsvermögen verloren zu haben.

Die 21 Anrufer*innen behaupteten, von Geburt an dieselben Symptome zu haben – kein Unfall, keine Operation. Das war etwas Neues. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde angenommen, die Beeinträchtigung, die noch keinen offiziellen Namen hatte, wäre entweder eine Folge gravierender Gehirnschäden aufgrund von Unfällen oder sie wurde als Gemütszustandsstörung abgetan.

Einige von ihnen gaben an, sich nicht an ihre Partner*innen oder verstorbenen Verwandte erinnern zu können, und sehr darunter zu leiden. Andere meinten, dass beschreibende Texte für sie bedeutungslos wären. Berufszweige wie Architektur oder Design blieben ihnen verschlossen, da sie sich kein fertiges Produkt vorstellen können. Teilweise erzählten Betroffene, sich oft alleine oder isoliert zu fühlen. Sie wären nicht in der Lage, schöne Momente noch einmal im Geiste zu durchleben. Ein Moment sei immer nur ein Moment. Nie mehr als das.

Niel Kenmuir aus Lancaster erzählte aus der Zeit der Grundschule: "Ich kann mich erinnern, dass ich nicht verstanden hatte, was 'Schafe zählen' bedeutet. Ich nahm an, das wäre metaphorisch gemeint. Als ich es trotzdem zu Hause versuchte, ertappte ich mich dabei, wie ich mich suchend in meinem Zimmer umsah, um die unsichtbare Schafe zu beobachten. Ich habe Jahre damit zugebracht, Informationen darüber zu finden – erfolglos."

Niel arbeitet in einem Bücherladen. Er selbst liest überwiegend Sachliteratur, weil er bei fiktiven Romanen nicht richtig in die Geschichten eintauchen kann und detailreiche Beschreibungen bedeutungslos sind – auch wenn er das Thema selbst sehr interessant findet. "Ich lese die einzelnen Wörter, ohne dass sich dabei ein anschauliches Bild in meinem Kopf formt. Normalerweise muss ich zu Stellen zurückblättern und Passagen mit visuellen Beschreibungen öfter lesen."

Die 61-jährige Gill Morgan aus Devon in England erinnert sich an ihre Ausbildungszeit zurück: "Wir sollten uns einen Sonnenaufgang vorstellen und ich dachte ,Wie in aller Welt sieht das aus?‘. Ja, ich konnte einen Sonnenaufgang verbal beschreiben. Ich konnte sagen, dass die Sonne über dem Horizont aufgeht, dass sich die Farben verändern während es langsam heller wird. Aber ich hatte dabei kein bestimmtes Bild vor Augen."

So richtig auf die Erkrankung aufmerksam wurde sie allerdings erst, als ihre Mutter verstarb: "Ich kann mich nicht an ihr Gesicht erinnern. Ich weiß jetzt, dass andere ganz einfach ein Bild ihrer Liebsten in ihren Köpfen hervorzaubern können. Das machte mich anfangs traurig, weil ich es nicht kann. Aber ich erinnere sie auf anderen Wegen."

Tom Ebeyer aus Ontario in Kanada hat eine besonders schlimme Form von Aphantasia: Er kann weder erlebte Geräusche, Oberflächen noch Gerüche abrufen. "Das hatte ernste emotionale Auswirkungen auf mich. Die Fähigkeiten, Erinnerungen und Erlebnisse abrufen zu können, der Duft von Blumen oder die Stimme eines geliebten Menschen. Bevor ich wusste, dass so etwas überhaupt menschenmöglich ist, war mir anfangs gar nicht klar, was ich verpasse.

Träumen geht trotzdem

Die gewonnenen Einsichten der durchgeführten Tests wurden im Rahmen eines wissenschaftlichen Papers von Professor Zeman und seinem Team im Cortex Journal veröffentlicht. In dem Beitrag gab Zeman der Erkrankung das erste Mal den Namen Aphantasia.

Die Tests führten darüber hinaus zu einer überraschenden Erkenntnis. Offenbar gibt es eine Trennung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Visualisierung. Menschen, die im wachen Zustand keine oder nur sehr bedingt Gedanken verbildlichen können, sind sehr wohl in der Lage, bunt und bildhaft zu träumen und sich an die Träume zu erinnern. Wie das möglich ist, ist bis dato unklar.

"Ich kann denken, ich kann nur das Gedachte nicht sehen", bringt es ein Betroffener auf den Punkt. Menschen mit Aphantasia sind nicht zwingend unkreativ. Sie wissen, was ihr Ziel, ihr Endprodukt sein soll, ohne es davor in Gedanken visualisieren zu können. Zum Beispiel beim Bau eines Baumhauses: Sie wissen faktisch, dass ein Baumhaus eine kleines Holzzimmer in einer Baumkrone ist, dass es Stützpfeiler und ein Dach benötigt. Sie denken an die physikalischen Eigenschaften, an den Schwerpunkt und an all das, was notwendig für die erfolgreiche Errichtung ist. Auf diese Weise entsteht Schritt für Schritt das Endprodukt, ohne einer klaren Vorstellung zuvor.

Aphantasia kann bestimmte Tätigkeiten erschweren, aber die meisten Betroffenen haben ihre eigenen Strategien entwickelt, um Situationen zu meistern, in denen ein bildhaftes Vorstellungsvermögen für andere vorteilhaft sein könnte. Psycholog*innen prüfen die Fähigkeiten des Inneren Auges im Allgemeinen mit dem "Vividness of Visual Imagery Questionnaire" ab. Die University of Exeter hat davon eine verkürzte Version entwickelt.

Es ist unmöglich, exakt zu messen, was und wie andere Menschen Erinnerungen abrufen. Professor Zeman betont, dass Aphantasia zwar eine Beeinträchtigung, aber keine Krankheit oder Behinderung per se darstelle. Es sei schlicht und einfach eine andere Art, das Leben wahrzunehmen.

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