Bielefeld ist im Moment eine Stadt der Baustellen. Die Menschen sind genervt von langen Staus und Lärm. Im Januar dann ein merkwürdiger Stillstand. Die Bauarbeiter*innen mussten die Überstunden abbauen, die sie in den Wochen zuvor angesammelt hatten. Angesammelte Überstunden? Dieses Problem hat Lasse Rheingans, Chef einer Bielefelder Digital-Agentur, nicht. Es ist 11:45 Uhr an einem Freitag Ende Januar. Während an der Großbaustelle neben dem Crüwellhaus, wo ein gewaltiges Loch klafft, inzwischen wieder Alltag und Betriebsamkeit herrschen, und die Mittagspause langsam näher rückt, sitzen Rheingans und seine Mitarbeiter*innen nahezu geräuschlos im Büro und haben bald Feierabend.

Die Agentur befindet sich im sechsten Stock des Crüwellhauses, das als das schönste Gebäude der Stadt gilt. Für den weiten Blick, den man von dem Großraumbüro im sechsten Stock auf den Teutoburger Wald hat, haben die Mitarbeiter*innen keine Zeit. Sie haben reichlich zu tun. Der Arbeitslärm besteht hier aus dem sanften Tippen auf Tastaturen und dem gleichmäßigen Summen der Rechner. Im Raum befinden sich etwa zwölf Mitarbeiter*innen. Es herrscht eine Arbeitsatmosphäre wie bei einer Matheklausur. Keine Gespräche, keine Telefonate, keine Push-Benachrichtigungen.

Das alles hat System. Lasse Rheingans, der die Agentur kürzlich als Geschäftsführer übernommen hat, hat ein neues Arbeitszeitmodell mit 25 Wochenarbeitsstunden eingeführt. Drei Stunden weniger also als die IG Metall derzeit für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie erkämpfen will. Rheingans' Modell dürfte in seiner Radikalität einmalig in Deutschland sein. Das Team arbeitet montags bis freitags von 8 bis 13 Uhr, ohne Homeoffice, ohne Erreichbarkeit nach Feierabend und bei gleichem Gehalt und gleichem Urlaubsanspruch. Das Ziel: gleiches Arbeitsergebnis bei höherer Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen. Kann das funktionieren?

Wenn die Ergebnisse gleich sind, dann müssten die Stunden eigentlich egal sein.“ - Lasse Rheingans

Lasse Rheingans ist seit fast 20 Jahren im Digitalgeschäft tätig. "Man kommt früh in diesen Wahnsinn von Geschwindigkeit", sagt er. Überstunden, durchgearbeitete Nächte, weil man für die Sache ja auch brenne. Doch das zunehmende Lebenstempo im Job wie im privaten Lebensbereich habe ihn früh ins Grübeln gebracht. Rheingans öffnete sich für alternative Modelle. Er hörte von Studien, die zeigen, dass Teilzeitkräfte das Gleiche leisten wie Vollzeitkräfte, oder von schwedischen Unternehmen, die im vergangenen Jahr eine Arbeitszeitverkürzung ausprobiert haben. Oder von dem US-Unternehmer Stephan Aarstol, der in seiner Skateboard-Firma den Fünf-Stunden-Arbeitstag eingeführt hat. Als Rheingans das Buch darüber gelesen hatte, dachte er: "Es ist allerhöchste Eisenbahn, dass das jetzt mal gemacht wird." Und überlegte: "Wenn die Ergebnisse gleich sind, dann müssten die Stunden eigentlich egal sein."

Stephan Aarstol hat das Fünf-Stunden-Modell inzwischen wieder etwas angepasst. Bei Rheingans' Agentur läuft der Versuch nun seit November. Bis Ende Februar will das Team herausfinden, ob es funktioniert. Es wurde aber nicht nur die Arbeitszeit verkürzt. Auch die individuellen Zielvereinbarungen in den Arbeitsverträgen wurden gestrichen. Es geht nicht um die Einzelleistung, sondern um die Zusammenarbeit. Jede*r bekommt daher nun den gleichen Anteil am Gewinn des Unternehmens.

Nach einigen Wochen zeigen sich Vorteile und Schwierigkeiten. "Die Idee ist ja: Wir kürzen alles Unnötige weg, wir sind fokussiert, wir machen Störfaktoren aus. E-Mails kontrollieren wir nur morgens und mittags, keine Notifications." Bei manchen Mitarbeiter*innen sei herausgekommen: Sie schaffen ihr Arbeitspensum nicht. "Bei ihnen liegt es nicht daran, dass sie nicht fokussiert sind oder langsam arbeiten. Sondern daran, dass sie schon vorher viel zu viele Aufgaben hatten. Die waren auch am Acht-Stunden-Tag schon sehr, sehr ausgelastet. Und jetzt, in fünf Stunden, schaffen sie es nicht mehr."

Freizeit und Distanz zum Job schaffen Raum für Neues

Das wird nun sichtbar. Für Rheingans ein positiver Aspekt. "Wenn es nicht sichtbar ist, bedeutet das, der Mitarbeiter ist konstant überarbeitet, fällt aus, ist unzufrieden und geht weg." Jetzt wird im Team über eine bessere Verteilung der Aufgaben gesprochen. Wenn die Mitarbeiter*innen um 13 Uhr oder auch mal etwas später ihren Arbeitstag beenden, sind sie zwar auch erschöpft, weil das dichte Arbeitspensum schon anstrengt, wie Rheingans zugibt. "Aber wenn sie dann nach Hause gehen, haben sie Zeit für Sport und für ihre Leidenschaften. "Und diese Leidenschaft ist bei ganz vielen, sich die neuesten Trends anzugucken, sich weiterzubilden und Wissen zu vertiefen." Das Arbeitszeitmodell führe also dazu, dass bis auf Ausnahmen alle ihre Arbeit schaffen, die Mitarbeiter*innen sich fortbilden und am Ende immer noch mehr Freizeit haben als bei einer gewöhnlichen Arbeitswoche. Bei sich selbst konnte Rheingans beobachten, dass er in der Freizeit anfing, intensiver über wesentliche, strategische Entscheidungen nachzudenken, die das Unternehmen betreffen. Distanz schafft neuen Raum.

Drei Monate nach dem Start des Versuchs wurden weitere Probleme deutlich. Wenn das Team um 13 Uhr gemeinsam kocht oder essen geht, wird darüber gesprochen, was noch nicht rund läuft. Darüber, dass der Sozialkontakt im Alltag zu kurz kommt. Dass Dinge auch mal ausgiebiger besprochen werden müssen als in einer fünfzehnminütigen Konferenz. Dass Personalentwicklung in fünf Stunden schwieriger ist als in acht. Oder dass manche Mitarbeiter*innen um 13 Uhr dann doch nicht die Gelegenheit haben, abzuschalten, weil die Kinder und Partner*innen zu Hause Anforderungen stellen.

Lasse Rheingans sieht sich aber auf dem richtigen Weg. Und jetzt will er Belege dafür finden, dass ein solches Modell wirklich funktionieren kann. "Ich glaube an die Sache und ich wünsche mir, dass die Arbeitswelt darüber diskutiert", sagt er. Auch wenn er weiß, dass die Reduktion um drei Arbeitsstunden schwer auf nicht-kreative, nicht-kopfarbeitende Branchen zu übertragen ist. Rheingans denkt dann allerdings auch an die Jobs, die durch die Digitalisierung und Automatisierung wegfallen. Er ist überzeugt: Die Arbeitswelt wird sich auf eine Reduzierung der Arbeitszeit zubewegen.

Ein Arbeitsplatz, wo jede*r machen kann, was er*sie will

In Berlin gibt es ein Unternehmen, das dies schon lange weiß. Einhorn ist ein Social-Start-up, das vor drei Jahren von Waldemar Zeiler und Philip Siefer gegründet wurde und vegane Kondome herstellt. Faire Arbeitsbedingungen, geringerer Wasserverbrauch, geringerer Einsatz von Agrarchemikalien, aber auch die sinnvolle Investition von 50 Prozent des Gewinns – all das ist Teil der Unternehmenskultur.

"Fairness wird aber auch bei uns im Unternehmen selbst gelebt", sagt Elisa Naranjo, eine von derzeit 18 Mitarbeiter*innen. Dazu gehört, dass Einhorn ein weitgehend hierarchiefreies Unternehmen ist. Zweimal im Jahr veranstaltet das Team ein sogenanntes Offsite. Bei den Treffen diskutieren alle offen über Wünsche und Ziele des Einzelnen und des gesamten Unternehmens. Wie wollen wir arbeiten? Wie viele Urlaubstage brauchen wir? Wie hoch soll das Gehalt sein? Und was wollen wir eigentlich vom Leben? Die Frage nach dem richtigen Gehalt erwies sich dabei als gar nicht so leicht zu beantworten. Von dem ursprünglichen Ziel, dass jede*r das Gehalt frei bestimmen kann, ist Einhorn inzwischen abgerückt. Nun gibt es ein Grundgehalt plus Zuschläge je nach persönlichen Lebensumständen, Ausbildung, Arbeitserfahrung und der Funktion im Unternehmen.

Das Thema Arbeitszeit führe trotz der freien Handhabung zu keinen Problemen. Alles eine Frage der Absprache. Es sei ganz einfach: "Arbeiten, wann, wo und wie du willst. Es gibt keine festen Arbeitszeiten", sagt Naranjo. Daher ist sie auch ein wenig skeptisch gegenüber dem Modell aus Bielefeld. "Was ist denn, wenn ich Montag acht Stunden arbeiten will und Dienstag nur drei?", fragt sie.

Bei Einhorn arbeiten manche Mitarbeiter*innen drei Stunden vom Bett aus und kommen dann ins Büro. Manche arbeiten von London oder Thailand aus. "Man macht, was zu einem passt." Das gilt auch für den Urlaub. Jede*r kann sich so viele Urlaubstage nehmen, wie er*sie möchte. Das führe nicht dazu, dass die Mitarbeiter*innen viel mehr Urlaub nehmen als früher, sagt Naranjo. "Aber es hat eine unglaubliche Freiheit im Kopf ausgelöst." Eine solche Unternehmenskultur sei eine große Motivation und beweise, dass beides geht: Freizeit und Karriere. Persönliche Freiheit und Erfolg im Unternehmen. "Es ist sehr fragwürdig, warum die meisten Unternehmen das nicht bieten", findet Naranjo.