In der Nacht zum Donnerstag lief der Ausnahmezustand in der Türkei aus. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den Notstand als Folge des Putschversuch im Juli 2016 ausgerufen und danach siebenmal um jeweils drei Monate verlängert.

Erdoğan begründete den Notstand damals mit dem Artikel 120 der Verfassung, welcher besagt, dass derartige Schritte angebracht sind, bei "weit verbreiteten Gewaltakten zur Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Ordnung" oder einem "gravierenden Verfall der öffentlichen Ordnung". Dieser Zustand ist eigentlich für eine Überbrückung während eines Ausnahmefalls im Land gedacht und nicht für einen längeren Zeitraum. Sowohl die EU als auch Menschrechtler*innen der ganzen Welt kritisierten den folgenden zweijährigen Ausnahmezustand der Türkei. Es ermöglichte Erdoğan per Dekret zu regieren, also durch eigenständige Verordnungen ohne die Zustimmung des Parlamets zu brauchen.

Zudem schränkte der Ausnahmezustand Grundrechte wie die Versammlungs- und Pressefreiheit stark ein. Sowohl das Verfassungsreferendum als auch die Präsident*innen- und Parlamentswahlen am 24. Juni fanden in dieser Zeit statt, Kritiker*innen bezweifeln darum ihre Unabhängigkeit. Seit dem Wechsel von einem parlamentarischen zu einem präsidentiellen System kann Erdoğan aber auch ohne dem Ausnahmezustand per Dekret regieren. Er braucht also den Ausnahmezustand mittlerweile nicht mehr, um allein über das Land zu verfügen.

Auswirkungen des Ausnahmezustands

Erdoğan ging in den vergangenen zwei Jahren systematisch gegen Regierungskritiker*innen vor. Wie weit die Auswirkungen des Ausnahmezustands reichen, zeigen konkrete Zahlen: Seit dem Sommer 2016 wurden nach offiziellen Angaben mindestens 77.000 Menschen verhaftet (darunter Journalist*innen, Menschenrechtler*innen und Oppositionspolitiker*innen), knapp 200 Medienhäuser geschlossen, mindestens 130.000 Staatsbedienstete entlassen. Die regierungskritische Webseite Bianet berichtet laut dpa, dass 2.271 private Bildungseinrichtungen geschlossen und außerdem 15 Universitäten dichtgemacht wurden. Im Zuge des Ausnahmezustands meldete die größte Oppositionspartei des Landes CHP den Suizid von mindestens 50 Menschen, die selbst entlassen oder inhaftiert wurden. Anfang Juli wurden durch einen neuen Erlass wieder rund 18.000 Lehrer*innen, Polizist*innen, Soldat*innen und andere ihre Arbeit entlassen, wie dpa berichtet.

Wie aus dem Ausnahmezustand in der Türkei ein Normalzustand werden könnte

Elyas* lebt in Istanbul und studiert Wirtschaft. Der 25-Jährige bezweifelt, dass sich durch das Ende des Ausnahmezustands etwas ändert. Gegenüber ze.tt sagt er: "

Ich denke, dass es keine strikten Änderung geben wird, weil der Ausnahmezustand nur auf dem Papier geendet hat. Beobachtet man die türkische Innenpolitik, werden wir weiterhin die Auswirkungen des Ausnahmezustands zu spüren bekommen." Elyas erklärt, dass in den vergangenen Wochen beispielsweise diskutiert wurde, dass r

egionale Gouverneur*innen Personen den Zugang zu Orten oder ganzen Städten verbieten können.

Beobachtet man die türkische Innenpolitik, werden wir weiterhin die Auswirkungen des Ausnahmezustands zu spüren bekommen." – Elyas

Neues Anti-Terror-Gesetz in Planung

Das neue Recht von Gouverneur*innen ist eines von vielen anderen des neuen Anti-Terror-Gesetzesentwurfs, der den türkischen Bürger*innen derzeit als "Kampf gegen den Terror" verkauft wird und wofür Erdoğans AKP wirbt. Viele Türk*innen macht der Gesetzesentwurf Angst, da dadurch der Ausnahmezustand zum Normalzustand im Land werden würde. Dieser Gesetzesentwurf ähnelt in vielen Bereichen dem Ausnahmezustand: Das Versammlungsrecht bleibt eingeschränkt, Verdächtige können zwischen 48 Stunden und vier Tagen festgehalten werden und unter besonderen Umständen sogar bis zu zwölf Tagen.

Der Ausnahmezustand musste alle drei Monate verlängert werden, dieser Gesetzesentwurf soll jedoch für drei Jahre gelten. Die AKP braucht eine Mehrheit, um das Gesetz zu verabschieden und dazu auch die Stimmen der ultranationalistischen Partei MHP. Ihre Unterstützung gilt aber als wahrscheinlich, da diese im vergangenen Jahr fast immer mit der AKP zusammen stimmte.

Ich fühle mich allein und ungeschützt."

Sinan*, 27, ist Sänger in einer türkischen Indie-Band. Nach einem Interview bei dem er sich regierungskritisch äußerte, bekam sein Label mehrere Drohungen. Er trägt eine bunte Bomberjacke über das weiße T-Shirt. "Es gibt keinen Unterschied zwischen der Zeit während dem Ausnahmezustand und jetzt. Alles ist nach wie vor beschissen hier für uns. Ich befürchte sogar, dass durch die neuen Anti-Terror-Gesetze die Lage für uns noch schlimmer wird, weil diese dann für drei Jahre gelten." Sinan will die Türkei seit Jahren verslassen und auswandern: "Als Mensch ist es so erbärmlich, in einem Land zu leben und nicht die grundlegenden Menschenrechte zu haben. Ich fühle mich allein und ungeschützt."

Auch wenn es Elyas schwerfällt, nicht total aufzugeben, hat er noch Hoffnung. "Wir, die Opposition, kümmern uns jeden Tag um unsere Zukunft. Für mich endet die Hoffnung nie. Jede Nacht hat einen Morgen. Ich wünsche mir, dass sich die Türkei eines Tages wieder auf die Grundwerten besinnt: modern, säkular und demokratisch." Sinan sieht das anders: "Ich glaube nicht mehr an die Türkei, ich wünsche allen guten Menschen, dass sie gehen können und irgendwo anders ein menschenwürdiges Leben leben."

*die Namen sind der Redaktion bekannt und wurden zum Schutz der Interviewpartner geändert