In ihrem Buch Unsichtbare Frauen schreibt die Autorin Caroline Criado-Perez darüber, warum eine Welt von Männern für Frauen gefährlich sein kann. Im Interview erklärt sie zudem, was die Gender Data Gap ist und welche Folgen sie haben kann.

"This is a man's man's man's world", sang einst James Brown. Dem kann die britische Autorin Caroline Criado-Perez wohl nur beipflichten. Für ihr Buch Unsichtbare Frauen – Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert recherchierte sie monatelang, wühlte in Archiven und sprach mit Forschenden. Am Ende, so musste sie feststellen, ist dieses Buch vor allem eins geworden: Eine Geschichte der Abwesenheit. Einer globalen Abwesenheit von Daten über Frauen. Dabei beeinflussen Daten unsere Welt: die Autos, die wir kaufen, die Medikamente, die uns verschrieben werden, sogar die Klimaanlage im Büro. Und diese Daten sind unvollständig.

Im Gespräch mit ze.tt erzählt Criado-Perez, wie sie das erste Mal auf die sogenannte Gender Data Gap gestoßen ist, warum selbst Stadtplanung sexistisch ist und wieso eine mangelnde Datenerfassung für Frauen tödlich enden kann.

ze.tt: Frau Criado-Perez, was ist die Gender Data Gap?

Caroline Criado-Perez: Die

Gender Data Gap bezeichnet eine geschlechtsbezogene Datenlücke. Sie zeigt, dass die überwiegende Mehrheit an gesammelten wissenschaftlichen Daten von Männern stammt. Diese Lücke umfasst alle Bereiche, von der Wirtschaft über die Medizin, vom Städtebau bis hin zu Reisedaten. Das liegt daran, dass Männer die unausgesprochene Selbstverständlichkeit sind. Sie bilden sozusagen den "Durchschnittsmenschen" und ihre Erfahrungen und Erlebnisse gelten als geschlechtsneutral. Daten, die über Männer gesammelt werden, sollen alle repräsentieren. Über Frauen erhobene Daten hingegen nur Frauen.

Wie sind Sie auf diese geschlechtsbezogene Datenlücke aufmerksam geworden?

Das erste Mal habe ich die Gender Data Gap in der Medizin entdeckt. In einer wissenschaftlichen Arbeit wurde erklärt, dass die vermeintlich klassischen Herzinfarkt-Symptome – wie Brustschmerzen und Schmerzen im linken Arm – bei Frauen viel seltener auftreten. Für Männer sind sie typisch. Zwar können Frauen diese Symptome auch haben, sie verspüren aber viel eher Atemnot, Müdigkeit und Übelkeit. Diese Symptome werden als atypisch bezeichnet, dabei sind sie das für Frauen nicht. Weil wir den männlichen Körper als Standardkörper betrachten, sterben Frauen häufiger an Herzinfarkten. Sie werden häufiger falsch diagnostiziert.

Können Sie ein weiteres Beispiel nennen?

Eine Gender Data Gap, die mich sehr verärgert hat, habe ich in der UN-Flüchtlingskonvention entdeckt. Hier haben wir ein Abkommen, das dazu gedacht ist, Menschen zu helfen. Es sollte nicht diskriminierend sein. Und doch wird bei näherer Betrachtung klar, dass diese vermeintlich geschlechtsneutrale Konvention für Männer und Frauen unterschiedliche Konsequenzen hat. Wer Asyl beantragen möchte, muss sich außerhalb des Landes befinden, aus dem er oder sie flieht. Für Frauen ist es weltweit schwieriger, zu reisen. Das kann beispielsweise daran liegen, dass sie aus einem Land kommen, in dem es ihnen nicht erlaubt ist, alleine zu reisen oder es unwahrscheinlicher ist, dass sie ein Reisevisum erhalten.

Selbst wenn es ihnen gelingt, das Land zu verlassen, müssen sie nachweisen können, dass ihre Fluchtursache auf einer Liste mit vorgefassten Gründen zu finden ist. Dazu gehören unter anderem: Sexualität, politische Zugehörigkeit und Religion. Das sind alles Gründe, aus denen Frauen verfolgt werden können. Wenn man aber Asylbewerberinnen fragt, warum sie verfolgt werden, antworten sie meistens, dass es daran liegt, dass sie Frauen sind. Geschlecht ist aber kein Kästchen, das angekreuzt werden kann.

Alles wurde für Männer entwickelt, egal ob Autos, Telefone, öffentliche Verkehrssysteme oder Stadtgebiete.
Caroline Criado-Perez

Gibt es einen Sektor, der von diesem männlichen Standardbild nicht betroffen ist?

Nicht, dass ich wüsste. Das sollte uns nicht überraschen. Hier geht es um eine Voreingenommenheit. Die Mehrheit der Bevölkerung trägt sie unbewusst in sich. Deshalb kann dieses Phänomen branchenübergreifend beobachtet werden. Alles wurde für Männer entwickelt, egal ob Autos, Telefone, öffentliche Verkehrssysteme oder Stadtgebiete. Viele Dinge funktionieren deshalb für Frauen nicht besonders gut. Sie berücksichtigen den weiblichen Körper nicht. Außerdem ignorieren sie, dass viele Frauen aufgrund der sozialen Geschlechterrollen, in die sie sozialisiert worden sind, andere Leben führen. Daten nicht nach Geschlecht aufzuschlüsseln, kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer.

Inwiefern?

Wir wissen beispielsweise wenig über das weibliche Immunsystem. Das ist gerade angesichts der Corona-Pandemie sehr relevant. Männer sterben anscheinend eher an diesem Virus als Frauen. In der Vergangenheit haben wir nur das männliche Immunsystem untersucht. Deshalb wissen wir heute nicht, warum das weibliche Immunsystem anscheinend aktiver ist als das männliche.

Während meiner Recherchen stieß ich auf eine Studie, in der männliche und weibliche Zellen zuerst Östrogen und dann einem Virus ausgesetzt wurden. Die weiblichen Zellen konnten das Östrogen nutzen, um das Virus abzuwehren. Das ging bei den männlichen Zellen nicht. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen weiblichen Zellen und Östrogen. Wir wissen aber nicht viel darüber. Die Studie selbst war schon unglaublich ungewöhnlich, da sowohl weibliche als auch männliche Zellen analysiert wurde. Die meisten Zellversuche werden an männlichen Zellen durchgeführt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir viele Behandlungsmöglichkeiten für Frauen verpasst haben, weil sie für Männer in der Zellversuchsphase nicht funktioniert haben.

In Ihrem Buch sprechen Sie auch den Bereich Stadtplanung an. Wie kann die sexistisch sein?

Bei der Stadtplanung gibt es Probleme mit der Zoneneinteilung. Die bestimmt, wie städtische Gebiete geplant sind, also wo sich die Wohngebiete und die Gewerbegebiete befinden. In den meisten Städten basiert diese Einteilung auf der Idee, das eigene Zuhause sei ein Ort für Freizeit, der verlassen wird, um zur Arbeit zu gehen. Nach diesem Konzept richtete sich das Leben von Männern vom viktorianischen Zeitalter bis in die 1950er-Jahre. Für viele Frauen war das Zuhause aber schon immer auch Arbeitsplatz. Sie brauchen die notwendigen Ressourcen, um ihre Arbeit ausführen zu können. Dazu gehören beispielsweise Möglichkeiten, die Kinder zur Schule zu bringen oder zu Ärzt*innen zu gehen. Wenn diese Dinge weit von der eigenen Wohngegend entfernt liegen und es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt, dann ist das ein Problem.

Frauen werden im öffentlichen Raum öfter sexuell belästigt als Männer. Das wird bei der Gestaltung von Verkehrsnetzen nicht berücksichtigt.
Caroline Criado-Perez

Frauen nutzen auch die öffentlichen Verkehrsmittel mehr als Männer. Diese sind aber nicht für die Reisen ausgelegt, die Frauen unternehmen. Sie wurden rund um die Bedürfnisse von Pendler*innen entworfen. Die meisten Frauen sind aber nicht so unterwegs, sondern verbinden viele kurze Trips durch die Stadt miteinander. Das nennt sich Trip-Chaining. Zum Beispiel, wenn sie die Kinder vor der Arbeit in die Schule bringen und auf dem Heimweg ein paar Lebensmittel besorgen oder eine*n ältere*n, kranke*n Verwandte*n besuchen. Diese Reisen führen sie aus den Geschäftsvierteln heraus und hinein in die Vororte. Das öffentliche Verkehrssystem wurde nicht für diese Art von Reisen entwickelt, deshalb brauchen Frauen viel länger, um von A nach B zu kommen. Zwischendurch müssen sie viel umsteigen und laufen.

Welche Rolle spielt dabei, dass Frauen sich in städtischen Gebieten oft unsicher fühlen?

Frauen erleben städtische Räume anders als Männer. So werden sie beispielsweise im öffentlichen Raum öfter sexuell belästigt. Das wird bei der Gestaltung von Verkehrsnetzen nicht berücksichtigt. Besonders frustrierend daran ist, dass es eine große Datenlücke gibt, was Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum angeht, weil Frauen solche Vorfälle nicht melden. Das hat viele Gründe. Meist wissen sie nicht, bei wem sie es melden sollen. In der Londoner U-Bahn gibt es zum Beispiel überall Schilder, die erklären, was zu tun ist, wenn du ein verdächtiges Paket siehst. Es gibt aber kein einziges Schild, das dir erklärt, was du tun kannst, wenn dich eine Person begrapscht, dir folgt oder dich mit Kommentaren belästigt.

Weil Frauen dieses Problem nicht melden, kommt es bei der Datenauswertung nicht vor. Stadt- und Verkehrsplaner berufen sich auf diese Daten und argumentieren dann, dass Frauen nicht angegriffen werden. Deshalb suchen sie keine Lösungen. Dabei gibt es einfache Lösungen für das Problem. Es könnte beispielsweise sichergestellt werden, dass sich Bushaltestellen in gut beleuchteten Umgebungen befinden oder dass es immer eine Anzeigetafel gibt, die zeigt, wann der nächste Bus kommt.

Sie verweisen auch darauf, dass beispielsweise Ministerien für Städtebau in der Regel stark männlich dominiert sind. Würde eine Frauenquote helfen?

Ja, denn einerseits zeigen Untersuchungen, dass Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit Daten ansammeln, die nach Geschlecht aufgeschlüsselt sind. Andererseits können sie auch ihre direkten Erfahrungen in die Arbeit einfließen lassen. Frauen vergessen seltener, dass Essen gekocht werden muss oder dass sie ihre Kinder von der Schule abholen müssen. Untersuchungen haben auch gezeigt, dass Quoten die Führung verbessern, da wir alle bei unseren Einstellungsentscheidungen voreingenommen sind. Wenn wir gezwungen sind, eine vielfältige Belegschaft zu haben, stellen wir am Ende bessere Leute ein.

Es gibt noch weniger Daten, die sich auf Schwarze, Indigene und Women of Color konzentrieren. Warum ist es wichtig, dass diese Daten gesammelt werden?

Weil es dort eklatante Unterschiede geben kann. Die USA haben unter den Industrieländern die höchste Müttersterblichkeitsrate. Das ist bereits erschreckend. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass afroamerikanische Frauen bei der Geburt sterben, ist 243 Prozent höher als bei weißen Frauen. Es gibt Menschen, die behaupten, das läge daran, dass afroamerikanische Frauen öfter in prekären finanziellen Lagen sind. Das stimmt nicht. In diesem Fall haben wir eine ungewöhnlich umfassende Datenlage. Sie zeigt, dass afroamerikanische Frauen mit einem Hochschulabschluss auch häufiger bei der Geburt sterben als weiße Frauen ohne Hochschulabschluss. Es muss also einen anderen Grund für diese Ungleichheit geben.

Im Falle eines Autounfalls liegt die Sterblichkeitsrate bei Frauen 17 Prozent höher als bei Männern.
Caroline Criado-Perez

Und wo fangen wir nun an, um diese Datenlücke zu schließen?

Alle Bereiche, die mit Datenerfassung arbeiten, müssen anfangen, Daten nach Geschlecht aufgeschlüsselt zu erfassen. Es wird einige Zeit dauern, bis wir diese Lücken schließen können. Wenn wir aber jetzt beginnen, können wir in ein paar Jahrzehnten daraus Nutzen ziehen. In einigen Bereichen werden wir die Ergebnisse schneller sehen als in anderen. Zum Beispiel wäre es viel einfacher, geschlechtsbezogene Unterschiede bei der Fahrzeugsicherheit zu beseitigen. Im Falle eines Autounfalls liegt die Sterblichkeitsrate bei Frauen 17 Prozent höher als bei Männern und die Wahrscheinlichkeit, sich zu verletzen, ist für Frauen 47 Prozent höher als für Männer. Das liegt daran, dass die Sicherheitsmaßnahmen für Autos hauptsächlich an männlichen Dummys getestet werden. Dieses Problem ist leicht zu beheben. Es müssen nur unterschiedliche Autocrashpuppen her.

Außerdem auf ze.tt: Warum Frauen 4,5 Stunden am Tag arbeiten, ohne Geld dafür zu bekommen