Während Avdulah die Brücke überquert und zurück in sein Viertel geht, rappt er zu Bushido: "Der Junge ist jetzt einer von uns und einen von uns behandelt keiner wie 'nen Hund". Er passiert einen KFOR-Soldaten mit kugelsicherer Weste, nickt ihm zu. Wie jeden Tag. Die KFOR ist die Nato-Mission im Kosovo, die seit Ende des Krieges 1999 aus Sicherheitsgründen im kleinen Land stationiert ist. Gelegentlich rasen ihre gepanzerten Autos durch die engen, schlecht asphaltierten Straßen mit den tief hängenden Stromkabeln und man fragt sich, was denn jetzt wieder passiert ist.

Dass Avdulah auf die andere Seite der Brücke spaziert, um einen Kaffee zu trinken, ist hier nicht selbstverständlich. Der Großteil seiner Freund*innen denkt, dass der Süden unsicher und die Albaner anders sind. "Die machen überhaupt keine Probleme", sagt Avdulah.

Die Brücke in Mitrovica steht wie kein anderer Ort im Kosovo für die ethnische Teilung zwischen Serben und Albanern. Die einen leben im Norden, die anderen im Süden. Rund um die Brücke kam es nicht nur während des Krieges, sondern auch danach zu schweren Ausschreitungen. In den Neunzigerjahren wurden vorrangig albanische Familien vertrieben und ihre Häuser von serbischen Nachbarn geplündert und besetzt. 200 Moscheen, ein Drittel aller islamischen Gebetshäuser, brannten im ganzen Land. Nach dem Krieg, als 800.000 albanische Geflüchtete in ihre Heimat zurückkehrten, kam es zu Racheaktionen. Häuser und serbisch-orthodoxe Kirchen wurden ausgeräuchert, Autos der KFOR und UNO demoliert.

Als die Sirenen anfingen zu heulen, musste der kleine Avdulah in der Wohnung bleiben und durfte so lange Fernsehen, wie er wollte. "Unsere nationalen Programme haben damals nicht funktioniert, also habe ich jeden Tag Super RTL geschaut", erinnert er sich. Während vor der Haustüre der Krieg tobte, lernte Avdulah mit SpongeBob Schwammkopf Deutsch. Er hat nie einen Sprachkurs besucht und spricht die Sprache trotzdem fließend. Er hofft, dass er einmal in Deutschland arbeiten kann, wo bereits ein Großteil seiner Familie lebt. Doch spontan in ein Flugzeug setzen und abheben, das geht nicht. Kosovo ist neben der Ukraine das einzige Land in Europa ohne Visafreiheit.

Heute ist Avdulah 20 Jahre alt und die Lage in Mitrovica hat sich beruhigt. Die Spannungen aber bleiben. "Ein paar Monate ist es ruhig", sagt Avdulah, "dann passiert wieder etwas." Ihn stört es, dass er sich noch immer nicht frei bewegen kann. Wenn er alleine in den Süden geht, sagen seine Eltern, dass er aufpassen soll. Wenn er in der Nacht im Club feiert, macht sich seine Mutter Sorgen.

"Für Journalisten ist es spannend, nach Mitrovica zu kommen, aber für uns ist es alles andere als lustig," sagt er. In der Stadt gibt es bis heute kein Kino oder Theater. Innerhalb des letzten halben Jahres kam es zu mindestens zwei Attacken mit Handgranaten. Einmal traf es das Gebäude der Kommunalverwaltung, einmal die Polizeistation. Darüber hinaus wurde ein Feuer in der Bar Dolce Vita gelegt, als der für den Dialog zuständige, kosovarische Minister Edita Tahiri den albanischen Bürgermeister für Gespräche traf. Ein ausländischer Diplomat, der seit Jahren in Nordmitrovica arbeitet, seufzt über einer Tasse Kaffee: "Kein Täter wurde bis jetzt gefasst. Die Polizei ist inkompetent oder sieht bewusst weg."

Den Krieg hat hier niemand vergessen

Hier, zwischen Plattenbauten und Burek-Ständen, zwischen serbischen Klöstern und Moscheen, wurde Avdulah als Kind bosnischer Eltern am 1. Juli 1997 geboren. Sein Vater und seine Mutter zogen von Sarajevo hierher. Der Bergbaukomplex Trepča war damals einer der größten Arbeitgeber Jugoslawiens. Heute liegt die Arbeitslosigkeit bei der jungen Bevölkerung im Kosovo bei 70 Prozent. Als Avdulahs Eltern in die Stadt zogen, war der Kosovo noch kein eigenständiger Staat, sondern eine autonome Provinz innerhalb Jugoslawiens. Albaner und Serben lebten nicht in getrennten Vierteln, sondern Tür an Tür.

Mit dem Tod des sozialistischen Präsidenten Tito im Jahr 1980 begann es im ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien zu brodeln. Nach den Unabhängigkeitsbewegungen in Slowenien, Kroatien und Bosnien, wurde auch in der mehrheitlich von Albanern bewohnten Provinz Kosovo der Wunsch laut, einen eigenen Staat auszurufen. Doch der serbische Machthaber Slobodan Milošević beschnitt die Rechte der Kosovo-Albaner und entmachtete die Provinz durch eine Verfassungsänderung. Albaner wurden von ihren Jobs gekündigt, enteignet und aus den Universitäten verdrängt.

Als albanische Widerstandskämpfer die paramilitärische Organisation UÇK formierten, ging der Konflikt 1997 endgültig in eine bewaffnete Auseinandersetzung über. Die NATO beschloss auf Seite der Kosovo-Albaner einzugreifen und erzwang durch Bombardements von serbischen Zielen den Abzug der jugoslawischen Armee. Als der Kosovo unter die Verwaltung der UNO gestellt wurde, war Avdulah zwei Jahre alt.

Eine Stadt, zwei Kosmen

Seit dem Krieg ist der Ibar nicht einfach nur ein Fluss mit auffallend viel Plastikmüll an den Ufern, sondern eine Grenze. Im Süden weht die albanische Flagge, ein schwarzer, zweiköpfiger Adler auf rotem Hintergrund. Auf den Verwaltungsgebäuden und den Uniformen der Polizisten prangert die Nationalflagge des Kosovo, sechs weiße Sterne in einem leichten Bogen über den goldenen Umrissen des Territoriums auf blauem Grund.

Über 93 Prozent der Bevölkerung im Kosovo sind Albaner. In den Regionen nördlich von Mitrovica hingegen stellen Serben die Mehrheit. Konkret sind es 30.000. Der Einfluss Belgrads ist an jeder Straßenecke spürbar. Die Menschen müssen weder Strom- noch Gasrechnungen bezahlen. Serbien finanziert Renten und Sozialversicherungen, um die Bevölkerung im Norden zu halten. In den Straßen hängen serbische Flaggen, Wahlplakate des serbischen Ministerpräsidenten Aleksandar Vučić und Poster von Donald Trump.

Der neue US-Präsident wird im Norden als eine Art Retter gefeiert. "Meine Freunde denken, dass Trump den Kosovo zurück nach Serbien holen wird," sagt Avdulah. In beiden Vierteln werden seit den jüngsten Spannungen zwischen Belgrad und Pristina Falschmeldungen im Internet und in den Printmedien verbreitet. Ausgerechnet bei der jungen Generation, die sich kaum noch an den Krieg erinnern kann, wachsen Skepsis und Vorurteile. Wenn Avdulah Unterricht im Süden hat, dann gibt es noch immer Studierende, die aus Prinzip fehlen.

Der Kosovo erklärte vor neun Jahren seine Unabhängigkeit und ist somit das jüngste Land Europas. Mit der Unterstützung führender westlicher Staaten rief der Kosovo 2008 einseitig seine Souveränität aus. Bis heute haben 23 der 28 EU-Mitgliedsstaaten und 113 der 193 UNO-Staaten den Kosovo anerkannt. China, Russland, Spanien, Griechenland oder Zypern sind nach wie vor nicht dabei. Serbien ist weit davon entfernt, die Souveränität des Kosovo zu akzeptieren. Davon zeugt ein Propagandazug, den serbische Nationalisten im Januar in Richtung Mitrovica entstanden. Darauf war in 21 Sprachen zu lesen: "Kosovo ist Serbien". Der Vorfall hat auf beiden Seiten zu einem vergifteten Klima geführt.

"Ich bin mit Serben groß geworden", sagt Avdulah, "und sie haben mich akzeptiert wie ich bin." Als Muslim geht er am Freitag in die Moschee, wenn er Zeit hat. Avdulah ist der Beweis, dass Freundschaften entstehen können, wenn es zu Begegnungen und positiven Erfahrungen kommt. Kürzlich hatte er Unterricht mit albanischen Studenten aus dem Süden. "Wir haben gelacht, über Mädchen geredet. Wir müssen lernen, dass sie Menschen sind wie wir," sagt er.

In Kürze eröffnet in Südmitrovica eine Kentucky Fried Chicken Filiale. Avdulah glaubt, dass er dann ein paar mehr seiner Freunde überzeugen kann, die Brücke zu überqueren.