Es gibt einfach zu viel von allem: Jeden Tag werden Supermärkte und Einzelhändler*innen mit neuen Produkten beliefert. Die Lebensmittel, die nicht mehr als marktkonform gelten, landen in der Tonne. Im Privathaushalt geht es weiter: Jede*r Deutsche wirft jährlich circa 82 Kilogramm Lebensmittel in den Müll. Das entspricht zwei vollen Einkaufswagen. Insgesamt werden jährlich knapp elf Millionen Tonnen Lebensmitteln von Industrie, Handel, Großverbraucher*innen und Privathaushalten entsorgt, ermittelte eine Studie der Universität Stuttgart 2012.

Erste Schritte mit foodsharing e. V.

Um diese Lebensmittelverschwendung zu bekämpfen, startete der Konsumkritiker Raphael Fellmer 2012 die Lebensmittelretten-Bewegung und gründete unter anderem die Organisation foodsharing e. V., die bis heute mehr als 26.000 Menschen dazu motivierte, ehrenamtlich geschätzte acht Millionen Kilogramm Essen bei Märkten und Restaurants abzuholen und vor der Tonne zu bewahren.

Dazu tragen sich die registrierten Lebensmittelretter*innen auf eine Online-Plattform in einen Plan ein und müssen zu einer festen Zeit bei dem bestimmten Betrieb sein. Der achtsame Umgang mit Lebensmitteln verlangt der modernen Gesellschaft Disziplin, Zeit und Organisation ab. Das sind Ressourcen, die viele nicht aufbringen können – oder möchten.

"Ich habe damals in meinem alternativen Kontext gedacht. Damals war ich noch im Geldstreik und natürlich auch persönlich größtenteils mit Menschen umgeben, die eher alternativ und flexibel sind. Foodsharing ist für solche Menschen geeignet, die über die Zeit verfügen, sich ehrenamtlich zu engagieren. Mit Job und Kind wird das oft schwierig", erklärt Raphael Fellmer.

Immer noch bleiben große Mengen an Lebensmitteln auf anderen Stationen der Wertschöpfungskette liegen und werden verschwendet, weil Privatpersonen sie nicht abdecken können. Fellmer musste sich eingestehen, dass es mehr als ehrenamtliches Engagement braucht, um das Lebensmittelretten auf eine professionellere und größere Ebene zu heben. Um im großen Stil Lebensmittel vor der Tonne zu retten, braucht es beispielsweise gute Logistik, um bei Großhändler*innen oder direkt vom Feld der Bäuer*innen Obst und Gemüse direkt abzuholen. "Um das Problem ganzheitlich zu lösen, brauchten wir mehr Kapazitäten, die wir nur durch eine Professionalisierung unserer Arbeitsweise erreichen können", sagt Fellmer.

Lebensmittelretten soll Mainstream werden

Deshalb gründete Fellmer mit seinem besten Freund und foodsharing-Pionier Martin Schott und dem erfahrenen langjährigen Bekannten Digital-Unternehmer Alexander Piutti das Start-up SirPlus, mit dem sie das Lebensmittelretten professionalisieren und zum Mainstream machen möchten.

Das Unternehmen plant, überschüssige, nicht marktkonforme und abgelaufene Lebensmittel bei Großhandel, Distributoren und Produzent*innen abzuholen, um sie dann an den Endkunden weiterzureichen. Privatkund*innen und Firmen können die gerettete Ware dann entweder direkt in dem geplanten SirPlus-Laden in Berlin kaufen oder in einen Online-Shop zu sich nach Hause bestellen. Die Lebensmittel sollen bis zu 70 Prozent reduziert sein.

Die Ware wird allerdings eingeschränkt sein. In Deutschland dürfen Lebensmittel zwar auch nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) verkauft werden, sogar zum gleichen Preis. Allerdings liegt die Verantwortung dann beim Verkäufer, in dem Falle also bei SirPlus, falls der*die Kund*in von einem Produkt krank würde. "Deswegen müssen wir auch dafür sorgen dass wir die geretteten Waren überprüfen", sagt Raphael. "Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass unsere Kunden über das MHD informiert sind. Deswegen werden wir auch ausschließlich unkritische Lebensmittel retten und verkaufen wo keine Gefahr besteht, dass Kunden krank werden."

Krummes Gemüse ist zu aufwendig für den Handel

Und warum kommen die großen Supermärkte nicht auf diese Idee? Das Lebensmittelsystem orientiert sich nicht nach Wertschätzung der Lebensmittel, sondern nach Effizienz. "In Deutschland werden zehn bis 50 Prozent aller Lebensmittel die angebaut werden, nicht konsumiert und oft erst gar nicht von den Landwirten an den Handel verkauft", sagt Fellmer. Es sei für die Händler*innen einfacher, nur eine Kategorie von zum Beispiel Möhren, Gurken, Erdbeeren et cetera abzunehmen. Außerdem ist das Handling von schrägen zu kleinen krummen et cetera Obst und Gemüse teilweise komplizierter und zeitaufwändiger. "Der Handel glaubt bisher nicht, dass diese Produkte gekauft werden", sagt Fellmer.

Außerdem möchte das Unternehmen eine Software entwickeln, um das die Lücke von Angebot und Nachfrage noch besser auszugleichen. Das soll mit einem digitalen Marktplatz passieren, auf der die gesamte Wertschöpfungskette nachgebildet sein wird: von Landwirt*innen und Produzent*innen, über Distributor*innen und Logistiker*innen bis hin zu Großhandel und Supermärkten. Wenn dann zum Beispiel ein*e Fahrer*in der Berliner Talef e. V. bei Großhändler*innen nicht abholen kann, soll das auf der Plattform registriert werden und via Push-Nachricht an andere Hilfsorganisationen weitergegeben werden, sodass jemand anderes einspringt. Somit können sämtliche Ressourcen gebunden werden.

Alle Beteiligten sollen von dem Konzept profitieren: Die Lebensmittelindustrie, die dadurch Entsorgungskosten einsparen, die Umwelt, da Treibhausgasemissionen reduziert werden, die Hilfsorganisationen und natürlich die Verbraucher*innen, da sie Kosten sparen und Gutes tun.

Wie es weitergeht

Seit zwei Wochen sammelt das Unternehmen nun das nötige Startkapital. Ihren Mindestbetrag haben sie schon erreicht. "Im Juli möchten wir mit unserem Lager südlich vom Tempelhofer Feld starten. Daraufhin wollen wir die Prozesse für den Laden in Gang setzen, den wir im September einweihen möchten", sagt Fellmer.

"Es fällt eine Menge bürokratische Arbeit an, die bei foodsharing aufgrund der ehrenamtlichen Basis nicht anfielen. Auflagen müssen erfüllt, gesetzliche Vorschriften eingehalten und Fristen beachtet werden. Wenn wir das Lager und den Laden eingerichtet haben, werden wir uns der Umsetzung des digitalen Marktplatz für überschüssige Lebensmittel widmen. Die Plattform wird für gemeinnützige Organisationen kostenlos zur Verfügung stehen, damit Tafeln, foodsharing, Stadtmission und so weiter besser untereinander kooperieren können", sagt Fellmer.

In Köln gibt es bereits einen vergleichbaren Einzelhandel, welcher in kleinerem Maße gerettete Lebensmittel in einem Ladenlokal verkauft. Im THE-GOOD-FOOD-Laden können Kund*innen für die abgelaufene oder nicht marktkonforme Ware zahlen, was sie geben können.

Wer sich weiterhin informieren möchte:

Bei diesen Projekten kannst du dich engagieren.

Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft bewirbt im Rahmen ihrer Kampagne Zu gut für die Tonne immer wieder Projekte in der Lebensmittelretter-Bewegung und verknüpft zivile Organisationen mit der Politik. Unter anderem schreibt das Projekt Preise aus, informiert über Studien, stellt kostenloses Infomaterial zur Verfügung und entwickelte im vergangenen Jahr eine App zum Lebensmittelretten.