Jerry ist 24. Der gebürtige Hamburger wird dieses Jahr im August in einem Berliner Betrieb seine Tischlerausbildung beenden. In seinem ersten Ausbildungsjahr bekam Jerry monatlich circa 400 Euro Ausbildungsgeld, dazu 180 Euro Kindergeld und ungefähr 180 Euro Berufsausbildungsbeihilfe (BAB). Davon musste alles bezahlt werden: Miete, Essen, Kleidung, im Winter eine Monatskarte. "Klar, da habe ich noch nebenbei gearbeitet", erzählt er. Damit auch mal eine Zugfahrt drin war oder um abends ein Bier trinken gehen zu können, jobbte er als Aushilfe in der Gastronomie oder nahm als Tischler zusätzliche Privataufträge an. Die erledigte er am Feierabend - nach 18 Uhr. An einigen Tagen hieß das für Jerry, dass er von der Arbeit auf die Arbeit ging. An diesen Tagen arbeitete er von 8 bis 24 Uhr.

2017, in seinem zweiten Ausbildungsjahr, ging Jerry nach der Arbeit statt zu jobben in den Boxclub. Er zog in ein größeres Zimmer, kaufte neue Möbel und reiste an seinen 24 Urlaubstagen zweimal ins Ausland. In Portugal lernte er surfen.

Jerry war im Wartezimmer eines Arztes beim Blättern durch Zeitschriften zufällig auf das Projekt Mein Grundeinkommen gestoßen. Der Berliner Start-up-Gründer Michael Bohmeyer hatte die Crowdfunding-Initiative 2014 gegründet. Im Rahmen des Projekts wurden seitdem anhand von Spenden 167 bedingungslose Grundeinkommen finanziert. Bewerben kann sich jede*r, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Einkommen. Bedingungslos eben.

Eine Übung für das echte, bedingungslose Grundeinkommen

Auch Jerry hatte sich kurzerhand beworben und war tatsächlich unter den Gewinner*innen. Er hatte nicht damit gerechnet, erzählt er. Als er davon erfuhr, fragte er sich, ob sich andere den Gewinn nicht mehr verdient hätten. "Bestimmt. Sicher", sagt er nachdenklich. Er bekam von Januar bis Dezember 2017 monatlich 1.000 Euro: "Das Beste daran war, dass der ganze Papierkram wegfiel." Ein Jahr ohne Bürokratie und ohne BAB-Anträge ausfüllen zu müssen. Auch die Nervosität beim Blick auf den Kontostand blieb ihm zwölf Monate lang erspart.

"Das Projekt Mein Grundeinkommen ist eine gute Übung in Sachen Bedingungslosigkeit. Für die Menschen, die spenden, genauso wie für die, die das Geld gewinnen", sagt der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Philip Kovce über die Initiative, die ein Gewinnspiel mit einer politischen Agenda verbindet – nämlich der, Aufmerksamkeit für das bedingungslose Grundeinkommen zu schaffen. "Und da es mittlerweile über 150 Gewinner*innen gibt, sind diese eine interessante Studienkohorte, um zu sehen, wie es sich auf Menschen auswirkt, wenn sie ein Jahr die Erfahrung eines Grundeinkommens machen", ergänzt Kovce, der sich selbst schon lange mit dem Thema befasst und 2006 die Bürgerinitiative Bedingungsloses Grundeinkommen gegründet hatte.

Der 31-jährige Kovce arbeitet unter anderem mit Daniel Häni, dem Mitbegründer der Schweizer Volksinitiative Für ein bedingungsloses Grundeinkommen zusammen. Die Schweiz hatte 2016 per Volksentscheid als erstes Land über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens entschieden: 23 Prozent hatten dafür gestimmt. Scheinbar stimmte eine Mehrheit gegen die Einführung, weil bis zum Schluss unklar war, wie eine Finanzierung aussehen könnte.

Eine postideologische Zukunftsvision des 21. Jahrhunderts?

Unter den Unterstützer*innen des bedingungslosen Grundeinkommens sind viele Unternehmer*innen wie Götz Werner, der Gründer der Drogeriemarktkette dm. Arbeitgeber*innen – keine, die auf Kosten des Sozialstaats einfach nur auf der faulen Haut liegen wollen, wie hier und da argumentiert wird. Sondern Menschen, die den freien Markt kennen und ihn bereits erfolgreich genutzt haben. "Das bedingungslose Grundeinkommen ist die erste postideologische Vision des 21. Jahrhunderts", sagt Kovce. "Postideologisch" nennt er die Idee, weil sie sowohl liberal als auch sozial sei und parteiübergreifend Anklang findet: Der Grünen-Poliker Hans Christian Ströble sprach sich wiederholt für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens aus. Aber auch der ehemalige Ministerpräsident Thüringens, Dieter Althaus (CDU), schlug vor, ein sogenanntes solidarisches Bürgergeld einzuführen, dessen Konzept an ein partielles, bedingungsloses Grundeinkommen angelehnt ist.

Die Befürworter*innen des bedingungslosen Grundeinkommens betonen: Dessen Einführung würde Bürokratie abbauen und vor allem dem Menschen die Würde und Freiheit zurückgeben, die er unter dem Zwang der Erwerbstätigkeit und zwischen unzähligen, oft mit Schikane verbundenen Jobcenter-Gängen verliert. Sie halten die Finanzierbarkeit für realistisch und schlagen vor, nach und nach alle Sozialleistungen in das Grundeinkommen umzulagern. Langfristig schlägt zum Beispiel die von Rainer Götz gegründete Initiative Unternimm die Zukunft vor, alle Steuern und Abgaben durch eine erhöhte Mehrwertsteuer zu ersetzen und das so erwirtschaftete Sozialprodukt dem Staat zur Verfügung zu stellen.

Die Gegner*innen des bedingungslosen Grundeinkommens befürchten vor allem, dass mit dessen Einführung eine Mehrheit aufhören würde zu arbeiten. "Es kam für mich nicht infrage, die Ausbildung wegen des Grundeinkommens hinzuschmeißen", sagt Jerry. Seine Tätigkeit mache ihm ja Spaß. Er tischlert auch in seiner Freizeit noch und baut für sich und seine Freund*innen Möbel. Aktuell spielt er mit dem Gedanken, als Geselle in dem Betrieb weiterzuarbeiten: "Als ich mit neuer Energie aus dem letzten Urlaub zurückkam, habe ich einfach gemerkt, dass ich noch viel lernen könnte." Jerry sagt: "Ich glaube, dass jeder Mensch einen Antrieb zur Arbeit hat. Man darf ihn nur nicht zu stark unter Druck setzen". Damit entspricht Jerry einer Mehrheit der Deutschen. Die Initiative Mein Grundeinkommen befragte circa 2.000 Menschen, was sie machen würden, wenn sie ein bedingungsloses Grundeinkommen beziehen würden. Von ihnen sagten nur elf Prozent, dass sie sich eine Auszeit von der Arbeit nehmen würden.

Kitiker*innen zweifeln aber auch die Finanzierbarkeit die langfristige Finanzierbarkeit eines bedinungslosen Grundeinkommens an, da Modellberechnungen bisher nur am Beispiel einzelner Jahre vorgenommen wurden. Auch den Zusammenbruch des gegebenen wirtschaftlichen Systems, das auf Einkommen, Steuern und Abgaben sowie der aus den Einkommen resultierenden Kaufkraft beruht, sehen Kritiker*innen in Gefahr.

Dabei ist es das bereits. Berlins Bürgermeister Michael Müller wies auf einer Veranstaltung im Berliner Rathaus darauf hin, dass es aufgrund der Digitalisierung unmöglich sein werde, auch in Zukunft so viele Menschen wie 2018 in einer Vollzeitbeschäftigung zu halten. Er schlug deshalb vor, ein sogenanntes solidarisches Grundeinkommen einzuführen. Bei diesem Vorschlag handelt es sich zwar keineswegs um ein Grundeinkommen – vor allem nicht um ein bedinungsloses –, sondern vielmehr um eine "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme", wie Kovce betont, aber es scheint, als ob man selbst im Berliner Rathaus nach alternativen Lösungen für den Arbeitsbegriff der Zukunft suchen würde – und zumindest zu Imagezwecken auf das Grundeinkommen zurückgreift.

"Besonders in der deutschen Öffentlichkeit stößt das Grundeinkommen auf reges Interesse", so Kovce. Das liege einmal daran, dass man hierzulande mit dem "unwürdigen Hartz-IV-Regime" konfrontiert sei. Zum anderen sei es auch darauf zurückzuführen, dass "die Überflussgesellschaft Deutschlands weiterhin steigende Armut erzeugt". Das Interesse an dieser Idee habe im letzten Jahrzehnt rapide zugenommen, sagt Kovce. 2006 hätte noch kaum jemand von dem Konzept gehört. Mittlerweile würde es politisch und medial wachsende Aufmerksamkeit erfahren, offensichtlich, weil es die Leser*innen und Wähler*innen interessiere. Bei der Bundestagswahl 2017 kandidierte erstmals die Ein-Themen-Partei Bündnis Grundeinkommen.

Was macht die Generation Grundeinkommen aus?

Dass das bedingungslose Grundeinkommen zu unserer Zeit passt, zeige sich unter anderem daran, dass "die Generation, die das bedingungslose Grundeinkommen heute diskutiert, eine andere ist, als die Generation 68", so Kovce. "Damals wandte man sich entweder gegen das System oder man etablierte sich. Die, die dagegen waren, wussten es besser als die Alten." Laut Kovce verbinde die Generation Grundeinkommen, "dass sie jenseits ideologischer Radikalität beziehungsweise angepasster Kleingeistigkeit auf der anderen Seite handle". Stattdessen zeige sie einen ernsthaften, anhaltenden Willen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Radikal wirkt auch Jerry nicht. Wenn er über Politik oder Soziales spricht, klingt er eher besonnen. Er hält im Gespräch oft inne. Man merkt, dass er nachdenkt, bevor er einen Gedanken ausspricht. Er ist keiner, der einfach Thesen raushaut. Zwar sagt er, dass er rechte Ideologien ablehnt. Aber "Nazis schlagen", wie es in manchen linksradikalen Kreisen heißt, sei für ihn keine Lösung. Jerry sagt, man könne Menschen nur ändern, wenn man mit ihnen im Gespräch bleibe. "Wenn jemand nicht meine Meinung hat und ich deshalb einfach gehe, ändert das ja auch nichts." Wie hätte Jerry bei dem Volksentscheid in der Schweiz abgestimmt? Er sagt, er hätte auf jeden Fall für das bedingungslose Grundeinkommen gestimmt: "Ohne Frage."

Brauchen wir neue Arbeitsmodelle?

"Arbeit ist das halbe Leben", sagt ein Sprichwort und unterschätzt damit den Stellenwert, den Arbeit 2018 im Leben vieler Menschen hat, möglicherweise sogar noch. Insgesamt arbeiten 43 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer*innen einmal im Monat auch samstags oder sonntags. Wer in einem Beschäftigungsverhältnis in Vollzeit angestellt ist, macht wöchentlich ungefähr fünf Überstunden. Das geht aus dem Arbeitszeitreport 2016 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz hervor. Dabei zeigt die Erhebung auch, dass die Befragten, die in Vollzeit beschäftigt sind, gerne weniger und die, die in Teilzeit beschäftigt sind, gerne mehr arbeiten wollen.

Ein Fazit aus den Ergebnissen der Befragung lautet: Es fürchten nicht nur viele, dass in Zukunft aufgrund der Digitalisierung Arbeitsplätze wegfallen könnten. Der Arbeitsbegriff an sich scheint reformbedürftig, da sich auch die Haltung vieler Menschen zur Arbeit verändert hat. "Ich möchte etwas machen, das mir Spaß macht und ich möchte meine Arbeit gut machen", sagt Jerry. "Wenn ich mal Kinder habe, will ich aber auch Zeit mit ihnen verbringen. Und nicht jeden Tag acht Stunden auf der Arbeit sein."

Ob es das bedingungslose Grundeinkommen sein wird, das Antworten auf die Anforderungen an den Arbeitsbegriff der Zukunft findet, ist ungewiss. Aber die Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen scheint zumindest die richtigen Fragen aufzuwerfen: Was heißt Arbeit in ein paar Jahrzehnten? Wird es weiterhin Arbeitsplätze für eine große Mehrheit der Bürger*innen geben? Werden wir arbeiten, um uns selbst zu verwirklichen oder um unsere Miete zu zahlen?