Mit Fingerabdruck oder ohne? Erst mal ins Land lassen oder direkt abweisen? Wie Deutschland mit geflüchteten Menschen umgehen soll, daran hat sich gerade der Streit zwischen der Fraktionsgemeinschaft der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands (CDU) und der Christlich Sozialen Union (CSU) entzündet. Bundesinnenminister Horst Seehofer, der gleichzeitig auch der Vorsitzende der CSU ist, fordert gemeinsam mit seiner Partei Geflüchtete abzuweisen, für die bereits ein anderes EU-Land zuständig ist. Ob er das überhaupt im Alleingang entscheiden darf, ist dabei unklar. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die gleichzeitig auch die Vorsitzende der CDU ist, setzt stattdessen auf eine europäische Lösung. Sie möchte mit EU-Ländern kooperieren, die von dieser Praxis unmittelbar betroffen wären, insbesondere Österreich, Italien und Griechenland.

Wie wahrscheinlich ist der Bruch?

Die CSU hat der CDU nun ein Ultimatum gestellt: Bis zum 1. Juli soll die Kanzlerin eine Einigung mit den EU-Ländern ausgehandelt haben. Ansonsten will Seehofer im Rahmen seiner Ressortzuständigkeit eigenständig die Grenzschließung und Abweisung umsetzen – dies käme jedoch einem Verstoß der Richtlinienkompetenz Merkels gleich, die besagt, dass die Kanzlerin die großen Linien der Politik festlegen darf.

Zur letzten schweren Fraktionskrise kam es 1976, als Helmut Kohl (CDU) und Franz-Josef Strauß (CSU) die Parteien anführten. Damals kündigte die CSU sogar kurz die Fraktionsgemeinschaft auf. Kohl drohte daraufhin, einen bayerischen CDU-Landesverband zu gründen, weshalb der Beschluss zurückgenommen wurde. Wie wahrscheinlich ist es, dass bei dem aktuellen Zwist die Fraktionsgemeinschaft und damit auch die Regierung auseinanderbricht? Darüber haben wir mit Professor Nils Diederich vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin gesprochen.

ze.tt: Herr Diederich, die Union ist ein ungewöhnliches Konstrukt. Warum gibt es die CSU nur in Bayern und die CDU in allen anderen Bundesländern, aber nicht in Bayern?

Nils Diederich: Die Christdemokraten sind nach 1945 in allen Bundesländern entstanden. Damals haben die Alliierten Deutschland in Bundesländer aufgeteilt und dort fanden Wahlen statt. CDU und SPD haben immer in allen Ländern agiert, während Bayern immer versucht hat, eine Sonderrolle zu spielen.

Ist die Fraktion von CDU und CSU ein zukunftsfähiges Konstrukt?

Bisher war es jedenfalls sehr erfolgreich. Im Bundestag gibt es ja die gemeinsame Fraktion mit einer getrennten Landesgruppe CSU, die immer eine Sonderrolle gespielt hat. Das ist definitiv zukunftsfähig, solange sich die Einheit von CDU und CSU im Bund immer wieder herstellen lässt.

Was würde passieren, wenn der aktuelle Streit tatsächlich zu einer Auflösung der Fraktion führen würde?

Zum jetzigen Zeitpunkt hat keine der beiden Seiten ein Interesse daran, dass die Fraktionsgemeinschaft auseinanderbricht. Sollte das passieren, wäre es das Ende der Ära Merkel.

Was meinen Sie, wie es jetzt weitergeht?

Im Grundgesetz gibt es zwei Sätze, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: Die Bundeskanzlerin bestimmt die Richtlinien der Politik. In der Hand der Bundeskanzlerin stehen auch die Ernennungen und möglichen Entlassungen der Minister. Auf der anderen Seite steht, dass die Minister ihr Amt in eigener Zuständigkeit führen. Innerhalb der Ministerien entscheiden also die Minister. Das Grundsätzliche, die Richtung, wird von der Bundeskanzlerin vorgegeben. Wenn jetzt ein Minister diese Vorgaben strapaziert, dann ist die Kanzlerin gefragt. Sie kann ja auch einen Minister entlassen. Es könnte ja sein, dass die CSU sagt, na Gott sei Dank, wir sind Seehofer los, wir nehmen einen anderen und machen weiter mit der Koalition. Aber wenn die Bundeskanzlerin einen Minister entlässt, ist das natürlich ein Kräftemessen.

Die CSU interessiert sich überhaupt nicht für die Bundespolitik." – Nils Diederich

Ein Kräftemessen ist es ja schon lange zwischen Merkel und Seehofer. Worum geht es hier eher – um Politik oder um Macht?

Es geht ganz eindeutig um Macht für die CSU. Sie ist eine Landespartei, sie ist eine bayerische Partei. Ich denke, sie hat auch die Absicht, das zu bleiben. Es hat auch in der CDU immer mal wieder die Forderung gegeben, eine bayerische CDU zu machen. Aber es ist Grundlage des Vertrags, dass es keine deutschlandweite CSU gibt und keine bayerische CDU. Ein Auseinanderbrechen wäre eine Neuordnung der deutschen Parteienlandschaft.

Ist es nicht paradox, dass so eine kleine Partei zu so einem Eklat führen könnte?

Die CSU interessiert sich überhaupt nicht für die Bundespolitik. Sie interessiert sich dafür, wie sie in Bayern ihre Mehrheit behalten kann. Aus diesem Leitmotiv haben sie sehr populistisch ihre Haltung zu asylpolitischen Fragen entwickelt. Wenn ich den Umfragen glauben darf, sind sie damit gar nicht mal so erfolglos. Die Zustimmung zur Linie der CSU geht ja weit über die Grenzen Bayerns hinaus und sie macht es den anderen Parteien schwer, eine Gegenposition aufzubauen.

Welche Rolle spielt eigentlich die SPD aktuell, immerhin Koalitionspartnerin der CDU?

Die SPD als Koalitionspartner tritt bisher nur als Statist auf. Es hängt jetzt auch davon ab, wie sehr die Sozialdemokraten an der Fortsetzung der Koalition hängen. Akzeptiert sie alles, weil sie aktuell so geschwächt ist? Oder lehnt sich die SPD auf und sagt, wir haben die Nase voll. Aber welche Alternativen hat sie dann? Aus der Koalition ausscheiden? Dann müsste Frau Merkel die Vertrauensfrage stellen, darauf könnten Neuwahlen folgen. Das wünscht sich aktuell wohl keine der Koalitionsparteien.

Ihre Prognose für die nächsten zwei Wochen?

Frau Merkel wird es nicht gelingen, eine tragbare Lösung mit den anderen europäischen Ländern herbeizuführen. Dann geht die Diskussion weiter und es wird darum gehen, wie Herr Seehofer handeln wird. Ich weiß nicht, wie es ausgehen wird, das kann niemand vorhersagen. Mein Gefühl sagt mir, dass CDU und CSU es nicht zum Bruch kommen lassen, weil sie wissen, dass sie damit ihre Führungsposition aufgeben würden. So eine undefinierte Situation wie wir sie heute haben, hatten wir seit sehr langer Zeit nicht.