Mit 15 Jahren knutscht Christina* zum ersten Mal mit einem Mädchen. Dass sie lesbisch ist, will sie sich zu dem Zeitpunkt jedoch nicht eingestehen. "Ich wollte es nicht wahrhaben und habe es auf den Alkohol geschoben", sagt die heute 32-Jährige. Zu groß war die Angst vor den Reaktionen in ihrem Umfeld.

Immerhin wohnt Christina in einer kleinen Stadt in Norddeutschland – nicht einmal 10.000 Einwohner*innen zählt ihre Heimat. Im Emsland, wo noch viel Landwirtschaft betrieben wird und jede*r jede*n grüßt, gibt es nach wie vor eine Menge Vorurteile. Ein*e Schwuler, Schwarze*r oder eine Frau als Schützenkönig wären der Weltuntergang.

Mit der Hochzeit stellt sie alle zufrieden

Als sich Christinas beste Freundin outet, ist das ein Schock für die Gemeinde. Plötzlich steht sie im Mittelpunkt des Klatsches. Beim Einkaufen und auf Festen wird sie ausgegrenzt. Christina entscheidet: In dieser Situation will sie nicht landen. Sie will sein, was die Gemeinde als normal versteht. Sie will den Erwartungen gerecht werden.

Statt sich mit ihrer Sexualität auseinanderzusetzen, entwickelt sie große Hemmungen davor. Sie heiratet einen Mann und bekommt kurze Zeit später ein Kind mit ihm. Doch das Paar streitet andauernd, es kommt zur Scheidung. Erst dann findet sie die Kraft, ihre Sexualität zu akzeptieren. "Ich habe geschaut, dass ich die Kurze groß kriege und habe mein Leben gelebt", sagt sie heute.

Christina beschließt, sich nicht mehr zu verkriechen. Sie will endlich lieben. Sie will endlich Frauen lieben. Übers Netz lernt die alleinerziehende Mutter ihre erste Freundin kennen, die im 360 Kilometer entfernten Magdeburg lebt. Als sie Christina zum ersten Mal in der Heimat besucht, überrascht diese ihre Freundin mit einem spontanen Urlaub. Hauptsache weg. Niemand soll von dem Date etwas mitbekommen.

Christina hat noch nicht die Kraft, sich zu outen, obwohl sie ahnt, dass es für die Beziehung nicht gut sein wird. "Wenn eine Beziehung schon mit einer Lüge beginnt, kann daraus nichts werden", sagt Christina. Auch später suchte sie sich immer nur Freundinnen von weit weg, um nicht in der ländlichen Gegend mit ihnen gesehen zu werden. Sie lebt sich aus, aber nur heimlich.

Zum Enkel*innentreffen darf sie nicht mehr kommen

2011 outet sich die damals 28-Jährige, während sie mit ihrer jetzigen Lebensgefährtin zusammen ist. "Das war der richtige Zeitpunkt, weil ich wusste, dass ich mit Anna alt werden möchte." Auch Anna hat eine Tochter. Zu viert ziehen sie in dem Städtchen zusammen. Zu ihrer großen Überraschung reagierten ihre Eltern und ihre Fußballmannschaft sehr entspannt und tolerant auf ihr Coming-out.

Lediglich ihre konservative und streng katholische Großmutter kommt mit der Sexualität ihrer Enkelin nicht zurecht. Sie bricht den Kontakt ab. Um eine Konfrontation zu vermeiden, wird Christina zur standesamtlichen Trauung ihres Bruders nicht eingeladen. Die Weihnachtsgeschenke für die Kinder stellen die Großeltern von da an vor der Tür ab. Auch beim alljährlichen Enkeltreffen ist Christina die einzige, die fehlt.

"Unter Hitler wärt ihr vergast worden"

Während Familie und Freund*innen das Coming-out positiv auffassen, wird das Leben in der Gemeinde, wie Christina es befürchtet hat: eine Qual. Besonders die deutsch-russischen Nachbar*innen machen dem Paar das Leben zur Hölle: "Ihr seid verdorben, verzogen und wäret unter Hitler vergast worden", bekommen sie von ihnen zu hören. Wenn die zwei Töchter von Christina und Anna den Müll rausbringen, schließt der Nachbarsjunge die Eingangstür ab. In der Schule werden sie für ihre Regenbogenfamilie gemobbt und ausgelacht.

Christina hat genug vom Verstecken. Sie geht in die Offensive. Gemeinsam mit Anna ist sie stark genug, die Schulkamerad*innen zur Rede zu stellen und aufzuklären, dass Homosexualität keine ansteckende Krankheit ist. Aber das sind Tropfen auf den heißen Stein. Christinas Tochter wird nicht zum Geburtstag von Mitschüler*innen eingeladen, weil ihre Eltern lesbisch sind.

Schließlich zieht das Paar im Ort um, weg von den Nachbar*innen, die sie hassen. Das Leben wird ruhiger, die täglichen Kämpfe werden weniger. Aber gegen die Blicke beim Einkaufen, wenn sie Händchen halten, können die Frauen nach wie vor nichts tun. "Durch die Gehörlosigkeit meiner Eltern kann ich Lippen lesen und weiß, was die Leute über uns tuscheln", sagt Christina. Das habe sie anfangs verletzt – mittlerweile habe sie sich daran gewöhnt.

Keine Chance zum Ausleben auf dem Land

"Sicherlich ist es schwieriger, seine Homosexualität auf dem Land als in der Stadt auszuleben", sagt Christina. Während es in Städten meist eine große Homosexuellen-Szene, Bars und Clubs gibt, sind die Stammtische auf dem Land meist nur mit dem Auto zu erreichen.

Seit ihrem Coming-out engagiert sich Christina im Verein LANDLuST (Lesben und Schwule für Toleranz auf dem Land). Das Motto: Lieb doch, wen du willst. Kostenlose psychosoziale Beratung, Aufklärung und vor allem die Gemeinschaft zeichnen den Verein aus. "Menschen auf dem Land sind nicht automatisch homophober als in der Stadt, aber je weniger Lesben und Schwule dort offen leben, desto größer sind oft die Vorurteile – und die Unsicherheit", steht auf der Webseite geschrieben. Durch diesen Verein hat Christina eine Gemeinschaft gefunden mit Menschen, die genau nachvollziehen können, wie sie sich als Homosexuelle auf dem Land fühlt.

Trotzdem wollen Christina und Anna nicht ewig auf dem Land bleiben. Wenn die Kinder älter sind, werden sie wegziehen, das steht fest. Das Angebot reicht ihnen nicht aus und die Toleranz für Homosexualität sei in einer Stadt wie Hamburg viel größer. Es schmerzt, zu gehen. Aber bleiben, meint Christina, schmerzt noch mehr.

* alle Name wurden von der Redaktion geändert.