Kommenden Sonntag wählt Österreich ein neues Parlament. Schon wieder. Die Wahl ist die Nachwehe der berüchtigten Ibizaaffäre um den ehemaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ). Sie löste eine Welle an politischen Umbrüchen aus: Auf Rücktritte folgten Entlassungen, auf Misstrauensvoten Amtsenthebungen und auf eine Übergangsregierung folgte eine Expert*innenregierung.

Seit Mai dieses Jahres ist klar: Es gibt Neuwahlen. Der inoffizielle Wahlkampf begann quasi am Tag nach der Regierungsauflösung. Erst mit Entschuldigungen und beschwichtigenden Worten, später mit verbalen Angriffen, Vorwürfen und einer Opfer-Täter-Umkehr par excellence. Nach offiziellem Wahlkampfstart kamen die klassischen Wahlplakate, -slogans und neue Versprechungen, in Österreich Wahlzuckerl genannt, hinzu. Und: Was im Wahlkampf nie fehlen darf, sind Auftritte der jeweiligen Spitzenkandidat*innen im Fernsehen. Bei eins-gegen-eins- oder alle-gegen-alle-Duellen liefern sie sich einen argumentativen Schlagabtausch in der Hoffnung, unentschlossene Wähler*innen auf ihre Seite ziehen zu können.

Fernsehduelle haben in Österreich Tradition

Seither finden sich fast täglich Duelle im Fernsehen. In keinem anderen Land wird im Vorfeld von Wahlen so viel diskutiert, geschweige denn so lange oder so intensiv. Vor der aktuellen Nationalratswahl am kommenden Sonntag gab es laut den Oberösterreichischen Nachrichten insgesamt 526 Stunden Diskussion im Fernsehen. Österreich ist damit sogar weltweiter Rekordhalter. "Mir ist kein Land bekannt, in dem so viele Fernsehkonfrontationen stattfinden würden wie in Österreich", sagt Jakob-Moritz Eberl, Wahlforscher an der Universität Wien.

In Deutschland gibt es zum Beispiel erst seit 2002 vor jeder Bundestagswahl ein Kanzlerduell zwischen den zwei stimmstärksten Parteien. Statt ein solches Duell auf jedem Sender zu veranstalten, sind in Deutschland mehrere Sender an der Ausstrahlung beteiligt. In Großbritannien muss vor jeder Wahl neu ausgehandelt werden, ob und falls ja, auf welchen Sendern Duelle ausgestrahlt werden.

Politische Diskussionsformate haben im österreichischen Fernsehen lange Tradition. Das erste Duell fand bereits im Jahr 1970 statt, als der damalige Kanzler Josef Klaus (ÖVP) gegen Bruno Kreisky (SPÖ) antrat. Die Einschaltquoten waren da noch verschwindend gering. Die sogenannte Mutter aller TV-Konfrontationen und der Durchbruch des politischen Diskussionsformats war im Jahr 1975. Der Österreichische Rundfunk (ORF) sendete das Duell Bruno Kreisky (SPÖ) gegen den Spitzenkandidaten der ÖVP Josef Taus. Damals war es noch Usus, die beiden Kontrahenten während der Diskussion alleine zu lassen. Nach einer kurzen Anmoderation verließ der Moderator das Studio und überließ die Debatte den Politikern. Es gab weder Verhaltensregeln noch Themenvorgaben.

Mittlerweile treten die Spitzenkandidat*innen aller im Parlament vertretenen Parteien zu Konfrontationen an. Im Kollektiv der sogenannten Elefantenrunde, in sämtlichen mathematisch möglichen Zweierduellen, bei Einzelinterviews, in der sogenannten Ameisenrunde, wo alle anderen nicht im Parlament vertretenen Parteien aufeinandertreffen. Mindestens 34 TV-Duelle oder Interviews waren im Zuge des aktuellen Wahlkampfs im österreichischen Fernsehen angekündigt – die Fernsehformate der Tageszeitungen wie oe24 oder Krone-Tv nicht mitgezählt. Das summiert sich. Für die Zuschauer*innen ergeben sich hunderte Stunden Sendezeit und ein überdimensionales Angebot an Input.

Österreichische Politiker*innen lassen keine Möglichkeit zur Publicity aus, denn sie wissen um die Wirkung derartiger TV-Ereignisse. Regelmäßig erzielen politische Talkrunden rekordverdächtige – oder wie es ein ORF-Pressesprecher ausdrückt: "unangefochten exorbitant hohe" – Einschaltquoten. Bis zu eine Million Menschen schaut zu. Das ist für österreichische Verhältnisse eine beachtliche Reichweite, die sich seit Jahren hält. Genauso wie die Analysesendungen, die den Talkrunden im Programm meist folgen. Dort inspizieren, interpretieren und kontextualisieren Politolog*innen oder Journalist*innen die getätigten Aussagen und unterziehen sie einem Faktencheck. Nicht wenige Zuseher*innen nähmen sich dieser Expert*innenmeinung an, machten sie sich zu eigen, um sie beim nächsten Treff am Stammtisch wiederzugeben, sagt DIE ZEIT-Korrespondent Florian Gasser aus Wien in seinem Podcast.

TV-Duelle in Österreich haben Showcharakter

Betrachtet man die österreichische Diskussionskultur, ist die besonders hohe Affinität der Österreicher*innen gegenüber politischen Diskussionssendungen wenig verwunderlich. Denn: Wer ein TV-Duell einschaltet, darf eine Show erwarten. Wer nach einem sachlichen Austausch von Argumenten sucht, wird vielleicht in Deutschland fündig, nicht aber in Österreich. In Österreich wird verbales Actionfernsehen serviert, ein von Emotionen geprägtes Lagerdenken, gepaart mit persönlicher Freund- oder Feindschaft.

Ich liebe Ihre Arroganz!
Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) zu Sebastian Kurz (ÖVP)

Nach dem Startschuss der Sendung bemühen sich die Kontrahent*innen zunächst, die Fassung zu wahren. Das Problem: Sie können es oft nicht. Selten argumentiert ein*e Kandidat*in, ohne die Sachebene zu verlassen. Irgendwo, ob der zweideutigen Wortwahl oder zwischen den Zeilen versteckt, findet sich ziemlich sicher ein Vorwurf, eine Beleidigung oder der sprichwörtliche Seitenhieb. Das kann eine nicht zum Thema gehörende Bemerkung sein, eine bissige Anspielung oder eine gehässige Aussage. Langsam wird die Diskussion persönlicher und emotionaler. In der letzten TV-Debatte vergangenen Mittwoch ließ Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) beispielsweise Sebastian Kurz (ÖVP) wissen: "Ich liebe Ihre Arroganz". Christian Rainer, Chefredakteur und Herausgeber des österreichischen Nachrichtenmagazins profil, kommentierte das Duell hinterher so: "Hier wurden zwei Menschen zu einer Paartherapie gezwungen, die nicht miteinander können."

Beleidigungen, Aktionismus und Mediation

Ausredenlassen ist ab einem gewissen Punkt passé. Aus zweideutigen Beleidigungen werden eindeutige, aus subtilen Seitenhieben werden offensive Sticheleien. Dann plärren die Kandidat*innen durcheinander, rufen "Lügner!" und "Schweinerei!". Mit lächelnder Boshaftigkeit fallen süffisant anmutende Sätze wie "Ich kann auch gerne aufhören zu atmen, dann können Sie länger reden" oder "Reden Sie mit einer Flasche, die redet nicht zurück". Gerne drängen sie ihr Gegenüber zudem in einen Rechtsfertigungszwang, der wenig zur Sache tut. Zum Beispiel, wenn das letzte private Urlaubsziel angesprochen und als zu luxuriös tituliert wird. Oder wenn jemand zu Sendungsbeginn seinem*ihrem Gegenüber erst mal das Du entzieht.

Dabei passieren nicht alle bissigen Kommentare im Affekt. Österreichische Politiker*innen wissen, dass sachliches Diskutieren keine Show liefert. Manche Vorwürfe scheinen zu kreativ formuliert, als dass sie in einem hitzigen Moment spontan fallen würden ("Sie kultivieren die Flüchtlingsproblematik wie ein Pflänzchen!"). Den Showcharakter eines TV-Duells untermauert zusätzlich der ungenierte Aktionismus der Kandidat*innen. 1994 holte der damalige Chef der FPÖ, Jörg Haider, in der Fernsehkonfrontation vor den Nationalratswahlen mit Franz Vranitzky (SPÖ) mit den Worten "Jetzt zeig' ich Ihnen was" erstmals ein kleines Infoschild, in Österreich Taferl genannt, hervor, um sein Argument zu bekräftigen. Seitdem greifen Politiker*innen immer wieder auf kleine Mitbringsel zurück: Zeitungsausschnitte, Geld, Tonaufnahmen und und und. Es gleicht einer analogen Powerpoint-Präsentation.

Der größte Respekt gilt bei all dem Tumult den Moderator*innen. Sie sind zu diesem Zeitpunkt gezwungenermaßen längst zu Mediator*innen transformiert. Mühselig versuchen sie, das Wort an sich zu reißen, um das Gespräch wieder auf die Schiene zu bringen. Ihre vorbereiteten Fragen müssen weichen, stattdessen schlichten und besänftigen sie. Manchmal funktioniert das, manchmal nicht. Im schlimmsten Fall reden alle Anwesenden durcheinander, ohne nachzugeben, gefangen in ihrer Hilflosigkeit. Den Zuseher*innen bleibt ein unverständliches Wirrwarr aus menschlichen Lauten. Die sind das allerdings gewöhnt. Genau wie die Medien, die darüber berichten. War ein TV-Duell einmal nicht schmutzig, nennen sie das "überraschend".

TV-Duelle in Österreich sind gleichermaßen spannend wie auch frustrierend

Wenn bei einer politischen Diskussion ein wenig Streit einfließt, ist das für Zuschauer*innen aufregend, wenn auch wenig informativ. Das wirkt dann wiederum frustrierend. Doch eines ist sicher: Ein TV-Duell in Österreich ist emotional, langweilig wird es selten. Und trotz der absurden Menge scheinen sie sinnvoll. Laut Wahlforscher Eberl würden "Studien aus Deutschland zeigen, dass eine positive Kandidatenperformance während TV-Debatten nicht nur die Sympathiewerte des Kandidaten erhöht, sondern auch Effekte auf Parteipräferenzen und die Wahlentscheidung haben kann." Er nennt die schiere Anzahl und Professionalisierung der TV-Formate in Österreich "ein außerordentliches Beispiel der Amerikanisierung österreichischer Wahlkämpfe".

TV-Debatten sind mittlerweile zu einem zentralen Ereignis von Wahlkämpfen in Österreich geworden. Regelmäßig denken sich die zuständigen Köpfe der Fernsehsender neue Formatideen aus. Seit 2017 müssen sich die Kontrahent*innen beim Sender Puls4 beispielsweise erst mal beschenken: Bücher, Thermengutscheine, eine Kutschenfahrt im Südburgenland, eine Fliegerbrille wurden bereits ausgetauscht. Mit aufgesetztem Lächeln nehmen die Politiker*innen ihre Zwangsgeschenke entgegen, bevor sie debattieren dürfen. Es ist beschämend und auch ein bisschen lustig. Aber genau das ist es, was TV-Duelle zu so gutem Unterhaltungsfernsehen macht.