Am Samstag sollen es in Berlin sonnige 17 Grad werden. Bedeutet: Die für Mittag angekündigte Demonstration gegen den "Mietenwahnsinn" wird wahrscheinlich groß werden. Nicht nur die Sonne wird die Berliner*innen dazu motivieren, das Demonstrierbein zu schwingen. Die Mieten in der Hauptstadt haben sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt: 2008 zahlten die Berliner*innen durchschnittlich 5,20 Euro je Quadratmeter, 2018 waren es 9,50 Euro. An dieser Entwicklung konnte auch die seit drei Jahren regierende rot-rot-grüne Koalition nichts ändern.

Der Berliner Rouzbeh Taheri war vor Jahren selbst von einer Mieterhöhung betroffen – wegen Modernisierungsarbeiten. Seitdem engagiert er sich in der Mietenpolitik. Im Visier haben Taheri und seine Mitstreiter*innen insbesondere große Immobilienkonzerne wie die Deutsche Wohnen.

Die Deutsche Wohnen ist der größte private Besitzer von Immobilien in Berlin. "Die Methoden dieses Unternehmens sind in Berlin berüchtigt", so Taheri. "Sie versuchen alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Mieten nach oben zu treiben." Die Aktivist*innen verstehen die großen Immobilienfirmen als "Haupttreiber der Mieten in Berlin". "Wir haben lange versucht, mit normalen Protestmethoden gegen diese Konzerne vorzugehen. Wir haben auch mit der Politik geredet. Aber all diese Maßnahmen haben nichts bewirkt", sagt Taheri.

Der Frust über die untätige Landesregierung und die geringe Beachtung des zivilen Protests der Aktivist*innen mündete in eine radikale Idee: Warum nicht die Wohnungen dieser Unternehmen in öffentlichen Besitz überführen? Geboren war die Initiative mit dem Titel Deutsche Wohnen & Co enteignen, ein Bündnis verschiedener ziviler Gruppen.

Die Aktivist*innen berufen sich bei ihrer Forderung auf Artikel 15 des Grundgesetzes. Darin steht: "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden."

Die Initiative fordert, dass der Berliner Senat ein Gesetz erarbeitet, das private Wohnungsgesellschaften, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, nach Artikel 15 enteignet und ihre Bestände in Gemeineigentum überführt. Das würde in Berlin mindestens fünf Unternehmen betreffen. Am Samstag startet die Initiative hierzu ein Volksbegehren, auf der "Mietenwahnsinn"-Demo sollen die ersten Unterschriften gesammelt werden.

Sozialismus im Grundgesetz?

Wie kommt ein solch sozialistisch anmutender Artikel ins Grundgesetz? Die historischen Wurzeln des Artikel 15 reichen bis ins Deutsche Kaiserreich zurück. Produktionsmittel und Grund und Boden befanden sich damals im Besitz einer kleinen Elite. Ein Gesetz, das die Überführung von Privatbesitz in Gemeineigentum zum Wohle aller ermöglicht, war zu dieser Zeit ein wichtiges Anliegen der Sozialdemokrat*innen. Sowohl in der Weimarer Republik als auch später in der BRD wurde ein entsprechender Artikel in der Verfassung verankert. Bislang ist der Artikel 15 seit seiner Verabschiedung 1949 jedoch nicht angewandt worden.

Artikel 15 beschreibt genau genommen keine Enteignung, auch wenn es umgangssprachlich so ausgelegt wird. Er beschreibt eine Vergesellschaftung. Vergesellschaftet wurde in der Bundesrepublik bislang noch nichts. Enteignet wird hingegen häufiger – dies regelt Artikel 14 des Grundgesetzes. Dort heißt es in Absatz 3: "Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig." Der Verfassungsexperte und Professor an der Freien Universität Berlin Dr. Christian Pestalozza erklärt: "Bei der Enteignung greift man auf ein ganz bestimmtes Objekt in der Hand eines Eigentümers zu und überträgt das Eigentum auf jemand anderen." Häufig werden beispielsweise Landwirt*innen enteignet, deren Grund benötigt wird, um neue Autobahnen oder Stromtrassen zu bauen. "Es geht also um ein konkretes Projekt, für das genau jenes Eigentum benötigt wird."

"Bei der Vergesellschaftung geht es nicht um ein konkretes Projekt, sondern um ein grundsätzliches Problem, das mithilfe der Vergesellschaftung gelöst werden soll", so Pestalozza. Von einer Vergesellschaftung sei nicht nur ein einzelnes Objekt, zum Beispiel ein bestimmtes Grundstück von Person X, betroffen, sondern ein ganzer Sektor. Am vorliegenden Beispiel: Die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen fordert nicht nur die Vergesellschaftung des Besitzes der Deutschen Wohnen, sondern aller Immobiliengesellschaften mit mehr als 3.000 Wohnungen.

Ein weiterer Unterschied zur Enteignung ist, dass der*die bisherige Besitzer*in nicht zwingend völlig entrechtet wird: "Die Rede ist von Gemeineigentum, was heißt, man bildet eine neue Art von Eigentum, an dem der ursprüngliche Eigentümer vielleicht sogar mit beteiligt ist", sagt Pestalozza.

Die Höhe der Entschädigung

Enteignung und Vergesellschaftung haben gemeinsam, dass der*die bisherige Eigentümer*in entschädigt werden muss. Wie hoch die Entschädigung im Falle einer Vergesellschaftung von Deutsche Wohnen und anderer Firmen mit mehr als 3.000 Wohnung sein würde, darüber gehen die Schätzungen auseinander. Der Berliner Senat, der mit einem etwas geschmälerten Marktwert rechnet, kommt auf bis zu 36 Milliarden Euro. Die Initiative, die nicht den Marktwert ansetzt, rechnet mit maximal 14 Milliarden Euro.

"Das Problem ist, dass wir bei der Sozialisierung keinerlei Erfahrungswerte haben", sagt Pestalozza. "Was wir von der Enteignung wissen, ist, dass man nicht pauschal und vorab sagen kann, so und so viel muss es sein." Eindeutig sagen, wie hoch die Summe wird, könne man vorab nicht: "Ich bin überrascht, dass bei der Vergesellschaftung sowohl die Initiative als auch die Senatsverwaltung mit Gewissheit sagen, auf diese Zahl wird es hinauslaufen. Ich könnte das nicht", so der Verfassungsexperte.

Ist der Beschluss der Initiative verfassungskonform?

Die Forderungen der Initiative hält Pestalozza für tendenziell verfassungskonform – natürlich käme es letztendlich darauf an, wie das jeweilige Gesetz am Ende aussehe. Bislang ist der von der Initiative geforderte Beschluss relativ offen formuliert. Die Aktivist*innen fordern lediglich, dass private Wohnungsgesellschaften, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, nach Artikel 15 enteignet und ihre Bestände in Gemeineigentum überführt werden sollen.

"Da kann man natürlich fragen, warum 3.000, warum nicht 2.000 oder 3.500", sagt Pestalozza. "Ist 3.000 die richtige Größenordnung oder darf man überhaupt auf die Größe abstellen? Muss man nicht auch auf andere Kriterien abstellen? Das kann man vorab nicht wissen, das wird das Landesverfassungsgericht entscheiden müssen, wenn es zu Auseinandersetzungen kommt."

Ein weiterer Punkt, an dem man laut Pestalozza ein juristisches Fragezeichen setzen könnte, ist, dass im Artikel 15 von "Grund und Boden" die Rede ist – nicht von den sich darauf befindlichen Häusern beziehungsweise Wohnungen. Hier stellt sich die Frage, ob diese mit "Grund und Boden" mitgemeint sind. Pestalozza selbst ist der Meinung, dass man diese Frage mit Ja beantworten kann. Sein Fazit: "In der Tendenz, so wie der Beschluss der Initiative formuliert ist, wird man schwer verfassungsrechtlich dagegen argumentieren können."

Der langjährige Weg des Volksbegehrens

Doch bevor ein mögliches Vergesellschaftungsgesetz vom Landesverfassungsgericht geprüft werden wird, ist es noch ein ein langer Weg. Das Volksbegehren der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen befindet sich in der ersten, vorbereitenden Phase: Die Aktivist*innen müssen mindestens 20.000 Unterschriften sammeln.

Im Anschluss daran prüft die Berliner Senatsverwaltung die Zulässigkeit des Antrags. Außerdem muss der Senat (die Berliner Landesregierung) dem Abgeordnetenhaus (dem Berliner Parlament) seinen Standpunkt zum Volksbegehren mitteilen. Das Abgeordnetenhaus kann dann das Volksbegehren in seinem wesentlichen Bestand übernehmen – oder ablehnen.

Im Falle einer Ablehnung startet das eigentliche Volksbegehren: Hierzu müssen die Aktivist*innen Unterschriften von mindestens sieben Prozent aller Wahlberechtigten zum Abgeordnetenhaus sammeln. Das wären derzeit etwa 170.000 Unterschriften. Und dann wäre der nächste Schritt ein Volksentscheid. Bis also ein entsprechendes Gesetz formuliert und verabschiedet wäre, kann es Jahre dauern.

Was sagt die Politik zu der Initiative?

Wie ließe sich dieser langwierige Prozess abkürzen? Die Berliner Regierung oder das Abgeordnetenhaus könnten das Anliegen des Volksbegehrens übernehmen. Eine Mehrheit im Parlament gibt es dafür jedoch vermutlich nicht. Derzeit regieren in Berlin SPD, Linke und Grüne. Offiziell hat sich nur die Linkspartei für das Begehren der Initiative ausgesprochen.

Die SPD hat bei ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende den Beschluss darüber, ob man die Initiative unterstützt oder nicht, vertagt. "Erstmal ist das Anliegen dieser Initiative völlig berechtigt", sagt der stellvertretende Vorsitzende der Berliner SPD, Julian Zado. "Wir haben in Berlin einen völlig unkontrollierten Mietmarkt, der viele Mieter in eine schwierige Lage bringt. Deshalb ist es richtig, alles zu prüfen, um dem entgegenzuwirken."

Priorität räumen die Sozialdemokrat*innen jedoch einem Projekt ein, das sie "Mietendeckel" nennen: Weil die Mieten in Berlin besonders stark steigen, sollen die Mieten für vorerst fünf Jahre, mit Option auf Verlängerung, eingefroren werden. "Wir sind der Überzeugung, dass die Mieten in Berlin in den letzten Jahren so stark gestiegen sind, dass gerade die großen Vermieter-Konzerne schon das Maximale rausholen", erklärt Zado. Einen Mietendeckel halten sowohl die Linken als auch die Grünen für eine gute Idee – ein entsprechendes Gesetz könnte theoretisch noch dieses Jahr verabschiedet werden.

Was sagt die Wirtschaft?

Nicht nur die Politik, auch die Wirtschaft hat eine Meinung zu der Bürger*inneninitiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen. Eine mögliche Vergesellschaftung "würde Unternehmen ein Signal geben, nicht mehr in Berlin zu investieren", sagt Michael Voigtländer vom Institut der deutschen Wirtschaft gegenüber Zeit Online. "Es würden noch weniger Wohnungen gebaut als bisher."

"Was es braucht, ist mehr bezahlbarer Wohnraum, und der wird von privaten Unternehmen ohnehin kaum geschaffen", erwidert Sebastian Koch, Landesgeschäftsführer der Linkspartei, auf diese Kritik.

Eine weitere Frage, die sich stellt: Wie will das verschuldete Land Berlin eine wie hoch auch immer geartete Entschädigung zahlen? Ab 2020 greift dort die Schuldenbremse, das heißt, das Land darf seinen Haushalt nicht über neue Kredite finanzieren. Wie lässt sich die Schuldenbremse mit Entschädigungszahlungen vereinbaren? "Auch das wäre machbar", sagt Sebastian Koch. "Die Initiative schlägt vor eine Anstalt öffentlichen Rechts zu gründen, die außerhalb der Schuldenbremse Kredite aufnehmen kann. Wie bei jedem Immobiliengeschäft würde man etwa zehn bis 20 Prozent der Gesamtsumme bei Kauf zahlen. Der Rest wäre kreditfinanziert."

Pestalozza von der Freien Universität Berlin rechnet nicht damit, dass beim Thema Deutsche Wohnen & Co. enteignen innerhalb der nächsten drei Jahren etwas passieren wird. Bis dahin steigen die Mieten vermutlich erstmal weiter.