Zugegeben: Die Chancen von Bernie Sanders, noch Präsidentschaftskandidat der US-Demokrat*innen zu werden, stehen nicht gerade gut. Rein rechnerisch ist es zwar noch möglich, praktisch wird es jedoch immer unwahrscheinlicher. Nach den Vorwahlen in Arizona, Florida und Illinois in dieser Woche liegt sein Kontrahent, der 77-jährige ehemalige Vizepräsident Joe Biden, mit den Stimmen von 1.153 Delegierten deutlich vor Sanders mit 861. Entschieden ist das Rennen, sobald einer von ihnen 1.991 Delegiertenstimmen auf sich vereint.

Immer wieder war in Bezug auf den 78-jährigen Bernie Sanders der Satz zu lesen und zu hören: "Die US-Amerikaner*innen sind noch nicht bereit." Sanders sei zu radikal. Mal abgesehen davon, dass es die US-Amerikaner*innen nicht gibt: "Noch nicht bereit" ist keine Kategorie, anhand derer Bernie Sanders seine politischen Forderungen ausrichtet. Das mag Vielen fremd sein; nicht zuerst zu fragen: "Ist das in den USA überhaupt möglich?", sondern: "Was ist nötig, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen?"

In einem der reichsten Länder der Welt sitzen Millionen junge Menschen auf zum Teil sechsstelligen Studienschulden. Sanders fordert, diese Schulden zu erlassen und will dafür die Wall Street über eine Steuer für Spekulationen in die Pflicht nehmen.

Millionen US-Amerikaner*innen hangeln sich von Gehaltscheck zu Gehaltscheck. Sanders will die Steuerlast umverteilen, damit die reichsten US-Amerikaner*innen nicht immer reicher werden, während ihre Angestellten von ihren Vollzeitjobs kaum leben können. Auch Unternehmen wie Amazon sollen ihre Milliardengewinne versteuern. Ja, richtig, das ist momentan nicht der Fall.

Über 25 Millionen Menschen in den USA haben keine Krankenversicherung. Sanders fordert, dass medizinische Versorgung ein Menschenrecht ist.

Sind es nicht eher die unsozialen Zustände, die einen erschaudern lassen, als die Vorstellung, dass jemand, der sich als demokratischer Sozialist bezeichnet, US-Präsident wird?

Vor allem junge Menschen hat Sanders mit seiner Idee überzeugt, das Establishment aus Politik und Wirtschaft anzugreifen, das das Leben in den USA maßgeblich kontrolliert. Die junge Generation, so betont Sanders immer wieder, sei zwar so progressiv wie nie, habe aber einen niedrigeren Lebensstandard zu erwarten als ihre Eltern.

Der Rahmen dessen, was möglich ist, hat sich mit Sanders verschoben

Das Thema "Medicare for all", einer Krankenversicherung für alle, die den Bürger*innen und nicht den Gewinnen der Pharmaindustrie dient, hat Bernie Sanders gesetzt. Seit Jahrzehnten kämpft er für diese Idee. Auf YouTube sind Videos aus den 1980ern zu finden, in denen er bereits dieselben Forderungen stellt wie heute. Was im Wahlkampf 2016 noch undenkbar schien, wie Sanders selbst sagt, daran kam im Wahlkampf der Demokrat*innen 2020 niemand mehr vorbei: eine Reform des Krankenversicherungssystems.

Der Rahmen dessen, was in den USA denkbar und möglich ist, hat sich mit Sanders verschoben – auch wenn sich die konkreten Vorschläge der einzelnen Kandidat*innen in ihrer Radikalität unterschieden. Wenn nun auch andere Demokrat*innen das Thema erkannt haben, warum ist Sanders dann trotzdem nochmal angetreten?

Seine Kampagne ist eine Graswurzelbewegung: "Not me, us" lautet der Slogan. Im US-Wahlkampf fließen Milliarden. Bernie Sanders ist der einzige Kandidat, der keine Spenden von großen Konzernen annahm. Er erhielt außerdem die meisten Einzelspenden, in vielen Fällen handelte es sich um Beträge unter 100 US-Dollar. Sanders will sich nicht abhängig machen von jenen, deren Einfluss er als US-Präsident zurückdrängen würde. Er will es mit den Mächtigen aufnehmen. Davor würden die anderen Kandidat*innen zurückschrecken.

Der Senator aus Vermont setzt auf den Druck der Massen von unten. Sein hohes Alter hin oder her – dieses leidenschaftliche Auftreten, sich nicht mit übermächtig erscheinenden Gegner*innen abzufinden oder sogar gemein zu machen, machen seinen Zauber und seine Glaubwürdigkeit aus.

Once a vaccine for coronavirus is developed, it should be free.
Bernie Sanders

"Noch nicht bereit" ist nicht gut genug für Bernie Sanders und für immer mehr Menschen in den USA auch nicht. Es ist bedauerlich, dass sich wohl dennoch eine Mehrheit in den Vorwahlen für Joe Biden entscheiden wird – einen Mann, der vor allem für den Status quo steht, der Vieles mitgetragen hat, was in den USA Ungerechtigkeiten schafft und der immer wieder einen zerstreuten Eindruck bei öffentlichen Auftritten hinterlässt.

So versprach er sich bei den TV-Debatten häufig, verlor den Faden, verwechselte zuletzt nach dem Super Tuesday bei einer Rede in Los Angeles seine Ehefrau mit seiner Schwester, die beide neben ihm auf der Bühne standen. Für Donald Trump sind diese Aussetzer schon jetzt eine Steilvorlage für diskreditierende Witze über "Sleepy Joe".

Biden, Obamas früherer Vize, ist jedoch besonders bei der Schwarzen Bevölkerung beliebt. Die bereits ausgestiegenen Kandidat*innen Pete Buttigieg, Michael Bloomberg und Amy Klobuchar sprachen ihm ihre Unterstützung aus, Elizabeth Warren enthielt sich. Es ist offensichtlich: Biden ist der Wunschkandidat des US-demokratischen Establishments, das damit eine Botschaft an die Wähler*innen sendet: Wer Trump schlagen will, muss Biden wählen. Das ist vor allem auch für die Schwarze Bevölkerung von Interesse, die ganz besonders unter Trumps rassistischer Politik leidet.

Einige US-Amerikaner*innen sollen außerdem Sorge vor möglichen Folgen eines Wall-Street-kritischen Präsidenten Sanders haben, vor einem möglichen Einbruch der Märkte, der sich auf ihre private Rentenvorsorge auswirken könnte.

Ein Impfstoff gegen das Coronavirus – für alle

Vor ein paar Tagen hat Bernie Sanders einen Satz getwittert, der seine Vision für die USA und deren Notwendigkeit eindringlich auf den Punkt bringt: "Once a vaccine for coronavirus is developed, it should be free." Sobald es einen Impfstoff gegen das Coronavirus gibt, sollte er für alle US-Amerikaner*innen kostenfrei zugänglich sein.

Ist es nicht unfassbar, dass das im derzeitigen Gesundheitssystem der USA nicht der Fall wäre?