Mit den Augen eines Erwachsenen

Gesellschaftswissenschaftler Oliver Emde sammelt leidenschaftlich Kinderhörspiele. Von Klassikern wie "Die Funk-Füchse" über "Benjamin Blümchen" bis zu den "Drei Fragezeichen" finden sich zahlreiche Stücke in seiner Sammlung. Doch anstatt diese nur noch als Einschlafhilfe zu benutzen, wie es viele auch Mittzwanziger machen, ist der Wissenschaftler noch einen Schritt weiter gegangen: Zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Dr. Andreas Wick, dem Erziehungswissenschaftler Dr. Lukas Möller und interdisziplinären Kolleg*innen hat er eine Forschungsreihe rund um Hörspiele auf die Beine gestellt.

Herausgekommen ist das Buch "Von Bibi Blocksberg bis TKKG". Der Band zeigt, wie vielschichtig Hörspiele sein können, welche Werte und Normen sie vermitteln, aber auch welche Stereotypen sich in ihnen verstecken.

Aktivismus mit Töröö

Bei Emde liegt der Schwerpunkt auf dem großen, grauen Elefanten, der mit seinem Freund Otto in Neustadt zuhause ist. Aber nicht seine Kindheit trieb Emde an, sich Benjamin Blümchen einmal genauer anzuschauen. Eine Publikation des Politikwissenschaftlers Gerd Strohmeier brachte ihn darauf, sich das Bild von Politik und Demokratie in Hörspielen genauer anzusehen. Der sprechende Elefant aus dem Zoo fördere kaum bis gar kein politisches Denken und sei somit auch nicht gut für die politische Sozialisation, schrieb Strohmeier. Das sieht Emde anders: "Das Besondere an den frühen 'Benjamin Blümchen'-Folgen ist, dass dort Partizipation und das Mitmachen in der Politik eine große Rolle spielt. Das mag dem Zeitgeist der 70er Jahre geschuldet sein, aber es ist doch bemerkenswert, dass es dort ein Plädoyer für eine lebendige Politik gibt."

Auch wenn Benjamin Blümchen bereits bereits 1977 das Licht der Welt durch seine Schöpferin Elfie Donnelly erblickte, kann man sich gut vorstellen, wie er zum Beispiel gegen Stuttgart 21 protestiert hätte. Schließlich geht es in den Geschichten häufig um den Kampf für die Umwelt und die Auflehnung gegen die politische Obrigkeit. Emde stimmt Strohmeier insofern zu, dass institutionalisierte Politik – repräsentiert durch die Figur des Bürgermeisters – recht einseitig und negativ dargestellt wird: Zur naiven und dümmlichen Darstellung komme hinzu, dass der Volksvertreter als korrumpierbar und verantwortungslos skizziert werde.

Das "Bürgermeisterchen", wie Karla Kolumne ihn nennt, verfolge stets eigennützige Motive und vertrete nicht die Interessen der Bürger*innen im Sinne eines Gemeinwohls. Diese Darstellung könne man aber auch, so Emde in Abgrenzung zu Strohmeier, als Anregung verstehen, sich kritisch mit dem Prinzip der Repräsentation auseinanderzusetzen und die herrschenden Verhältnisse an den normativen Ideen der Demokratie zu messen.

Bei aller Kritik ermutigt die Schöpferin Donnelly dennoch stets dazu, selber politisch aktiv zu werden. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Folge "Benjamin Blümchen auf dem Baum" aus dem Jahre 1980. In dieser wird der Elefant zum echten Aktivisten, der einen Baum besetzt, damit dieser nicht abgeholzt wird. Ein klassischer Umweltschützer eben.

Kein Hex-hex für die Emanzipation

Neben Benjamin Blümchen ist Elfie Donnelly aber auch noch die Mutter von Bibi Blocksberg. Die kleine Hexe scheint, wie ihre Schöpferin, auf den ersten Blick eine Verfechterin für die Emanzipation zu sein. Sie und ihre Mutter haben Zauberkräfte, Familienvater Bernhard und Bruder Boris allerdings nicht. Doch bei einem genauer Blick wird klar: Mutter und Tochter unterstehen dem Vater. Er setzt ihnen Grenzen und repräsentiert nach außen hin die Familie, trotz der Kräfte, die die Frauen besitzen.

Das hat sowohl Oliver Emde als auch Dr. Lukas Möller sehr überrascht: "Bibi Blocksberg kann nicht die Versprechen halten, die sie auf den ersten Blick zu geben scheint, was ihre Figur als emanzipiertes Mädchen angeht. Wir erleben dort, dass Frauen in die Sphären, die für sie 'vorgesehen' sind, wie Haushalt, Helfen und Familie, durchaus selbstbewusst auftreten dürfen, aber dass die großen Themen wie politische Macht, Geld verdienen und Entscheiden in Männerhand sind."

Gegenpol zu nationalsozialistischer Pädagogik

Bei allen Werken, die sich die Wissenschaftler*innen vorgenommen haben, gab es nur eine Bedingung: Es muss eine Hörspielfassung sein. Das war auch bei Pipi Langstrumpf der Fall. "Ich bin sozusagen ran gegangen aus dem Blick eines historischen Bildungsforschers, der sich mit der Entwicklung der Pädagogik und pädagogischen Strömungen befasst", erklärt Möller.

Klar ist: Die überstarke Dame mit den unzählig vielen Namen macht sich, wie sie es in ihrem Lied besingt, 'die Welt so, wie sie ihr gefällt'. Rückblickend könnte man sagen, Pipi wurde antiautoritär erzogen. "Eine Sicht, die wir in den 68er Jahren in Deutschland durchaus wiederfinden. Die Traditionen gehen aber bis auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurück." Warum das wichtig ist? Als Pippi Langstrumpf 1949 auf den Markt kommt, herrschte in Deutschland eine ganz andere pädagogische Strömung. Damals wurde historisch bedingt noch sehr viel Wert auf Autorität, Disziplin und Distanz gelegt.

"Diese Pädagogik war letztlich noch durch nationalsozialistische Begrifflichkeiten besetzt. Pippi Langstrumpf bildet dazu den Gegenpart", sagt Möller. Astrid Lindgren hat mit Pippi Langstrumpf eine junge Dame erschaffen, die einen revolutionären Charakter hat und sich gegen jegliche Einschränkungen emanzipiert. Neugierig die Welt entdecken, ohne dabei jemand anderen zu verletzen.

Paradebeispiel der Detektivarbeit

Die drei Fragezeichen werden von allen drei Experten sehr geschätzt, sind aber dennoch nicht Teil der Analyse im Sammelband geworden. Lukas Möller hat dafür eine simple Erklärung: "Wertend gesagt: Weil sie so viel richtig machen. Weil sie sich nicht so sehr in ihrem Entstehungskontext einfangen lassen, sondern mit der Zeit gehen. Außerdem entwickeln sich die Figuren in diesem Detektivgeschichten sehr komplex weiter."

Ganz im Gegensatz zu den Ermittler*innen bei TKKG. Die hat Möller als Kind sehr gerne gehört, nach der Analyse von Historiker Frank Münschke hat er aber ein anderes Bild von den vier jungen Detektiv*innen bekommen. In den Hörspielen sind "die Bösen" zum Beispiel häufig Südländer*innen, Osteuropäer*innen und Menschen mit auffälligen körperlichen Merkmalen – etwa Narben. Auf so etwas verzichten die Geschichtenerzähler der Fragezeichen.

Die Moral der Geschichte

Ist nun jemand mit vielen Bibi-Hörspielen emanzipierter als ein Pipi-Fan? Ein direkter Effekt der Hörspiele auf die begeisterten Anhänger*innen ist nicht nachzuweisen. Zumal es zu diesem Feld keine unmittelbaren Versuche gab. Zwar haben die Untersuchungen der Wissenschaftler*innen gezeigt, dass diese Stereotypen sich in den Texten verstecken, doch ob sie sich von aus den Kassettenrekordern auch in die Kinderköpfe gebrannt haben, bleibt unklar.

Dieser Punkt ist Emde und seinen Kollegen auch besonders wichtig: Sie haben es nicht darauf angelegt zu zeigen, dass Hörspiele schädlich sind, sondern vielmehr versucht herauszuarbeiten, wie viel Tiefe in ihnen steckt – und was Erwachsene von den Kinderheld*innen lernen können, wie Oliver Emde herausstellt: "Die Beteiligung in einer Demokratie erschöpft sich nicht darin, alle vier Jahre zu einer Wahl zu gehen. Vielmehr geht es darum, sich auch in die Verhältnisse einzumischen, in allen möglichen Formen, die in einer Demokratie zulässig sind. Und hier kann man im Sinne eines partizipatorischen Demokratieverständnisses viel von Benjamin Blümchen lernen." Sei es nun mit einer Baumbesetzung, einem Sitzstreik oder auch der freien Meinungsäußerung in der Presse, wie sie die rasende Reporterin Karla Kolumna verkörpert. Auch Pippi Langstrumpf erscheint als Vorbild. Sie zeigt, wie wichtig die freie Entfaltung eines Kindes ist und das sturer Gehorsam einem die Sicht auf die Welt versperrt.

Dennoch ist sich Medienwirkungsforscher Dr. Wolfgang Schweiger sicher, dass ein Rollenbild, dass in Hörspielen vorgelebt wird und sich auch im eigenen Sozialisationsumfeld spiegelt, charakterbildend sein kann. Wenn Kinder also von Bibi lernen, dass der Vater das letzte Worte hat und auch zuhause die Mutter schlussendlich dem männlichen Vorbild das letzte Wort überlässt, prägt das. Vor allem, wenn die Kinder nicht sehen, dass die Hörspielfigur aus ihrem Verhalten Nachteile zieht. Oliver Emde ist dennoch sicher, dass Kinder sich bereits bis zu einem gewissen Grad kritisch mit dem gehörten auseinander setzten.