*Auf Wunsch der Protagonisten*innen dieses Beitrags wurden ihre Namen geändert.

Thomas ist Ende 30, verheiratet, hat Kinder, eine akademische Laufbahn absolviert und ist Manager in einem IT-Unternehmen. "Ganz normales Leben, würde ich mal sagen." Ganz normal – wäre da nicht der Rollstuhl, in dem er sitzt, während wir telefonieren. Den hat sich Thomas privat gekauft, da er nicht drin sitzt, weil er es muss, sondern weil er es will. Thomas lebt mit Body Integrity Dysphoria, kurz BID. Menschen, die wie Thomas mit dieser neurologischen Besonderheit leben, wollen behindert sein – meist sehnen sie sich nach einer ganz konkreten Behinderung. In Thomas' Fall ist es eine Querschnittlähmung, die er sich ab knapp unterhalb der Brust wünscht. "Wobei ich mir das jetzt nicht so wünsche, wie man sich ein neues Auto oder einen Pool wünscht", erklärt er. Es sei ein ganz tief liegender Wunsch, eine Sehnsucht, die er sich nicht willentlich ausgesucht habe, wie er betont.

Betroffene entdecken den Wunsch nach Behinderung meist schon in der frühen Kindheit

"BID-Betroffene können nichts für ihren Wunsch nach einer Behinderung", unterstreicht auch der an der Medical School in Hamburg arbeitende Neuropsychologe Prof. Dr. Erich Kasten. Er erforscht das Phänomen BID schon seit 15 Jahren und behandelt Betroffene psychotherapeutisch. Irgendwo im Gehirn sei da was anders geschaltet worden, erläutert er. Mit dem Ergebnis, dass Betroffene das Gefühl hätten, im falschen Körper zu leben: "Sie haben das Gefühl, dass sie in einem Körper stecken, der nicht ihrem mentalen Ich entspricht. Sie haben das innere Bild von einer Behinderung, aber der äußere Körper ist unbehindert."

Den Wunsch nach einer Behinderung würden Betroffene meist schon in der frühen Kindheit in sich entdecken, so Kasten. In der Tat erzählt Thomas: "Grundsätzlich habe ich schon immer gemerkt, auch schon als Kindergartenkind: Irgendwie ist mit mir und meinem Körper was anders."

Auch Julia, 43, die mit BID lebt und sich wie Thomas nach einem Querschnitt sehnt, erinnert sich: "Schon im Kindergartenalter habe ich mich für das Thema Behinderung und Orthopädie interessiert." Zu Hause habe sie regelmäßig im Medizinbuch der Eltern gelesen, wofür sie irgendwann Ärger bekommen habe. Sie habe angefangen, ihr Bedürfnis nach einer Behinderung zu unterdrücken. Wann immer es ihr durch den Kopf gegangen sei, habe sie sich selbst ermahnt: "Sag mal, geht’s noch? Das ist doch total abartig."

Die Erleichterung, nicht der*die Einzige zu sein

"Die Betroffenen machen in der Regel lange Krisen durch, weil sie mit dem Wunsch selber erst einmal überhaupt nicht klar kommen", sagt Kasten. Vielen seiner Patienten*innen habe es schließlich geholfen, bei einer Internetrecherche festzustellen: "Aha, das Ding hat ja einen Namen und es gibt andere Betroffene."

So ging es auch Julia, die erst vor einem halben Jahr von der Existenz der Diagnose BID erfuhr, als sie im Internet auf ein Selbsthilfeforum stieß. "Da habe ich dann gelesen, dass es anderen ganz genauso geht wie mir und dass sie zum Teil eins zu eins von den selben Empfindungen berichten." Es sei eine große Erleichterung für sie gewesen.

Thomas hat zwar nie so starke Selbstwertkrisen durchlebt wie Julia, was auch daran liegt, dass er auf positive Outings im engeren Freundes*innenkreis und Familienkreis zurückblicken kann. Auch seine Partnerin weiß von seinem Bedürfnis nach einem Querschnitt und akzeptiert ihn mit dieser Besonderheit. Jedoch ist es für ihn ein beklemmendes Gefühl, an behinderte Menschen zu denken, die seit Geburt oder seit eines Unfalls mit einer Behinderung leben: "Die haben sich ihre Behinderung natürlich nicht gewünscht."

Auch Erich Kasten merkt an: "Meiner Erfahrung nach stehen körperbehinderte Menschen BID oftmals mit völligem Unverständnis gegenüber, was ich auch nachvollziehen kann."

"Meine jetzige Behinderung finde ich nicht ausreichend"

Allerdings gibt es auch unter den Menschen mit Behinderung manche, die selber von BID betroffen sind. So zum Beispiel der 36-jährige Christian, der seit seiner Geburt mit einer spastischen Hemiparese lebt. "Das ist eine halbseitige Lähmung, die das rechte Bein und den rechten Arm leicht einschränkt", erklärt er. Außerdem lebt er mit einer neurogenen Blase: einer Blasenentleerungsstörung bedingt durch spastische Kontraktionen der Blase.

Dennoch sagt Christian: "Meine jetzige Behinderung finde ich nicht ausreichend." Momentan macht er alles zu Fuß, wäre aber gerne außerhalb seiner Wohnung auf einen Rollstuhl angewiesen. Außerdem erledigt er die meisten Toilettengänge auch mit neurogener Blase noch ganz normal, sehnt sich aber danach, dauerhaft auf die Benutzung von Windeln und Kathetern zur Selbstkatheterisierung angewiesen zu sein. "Ich wünsche mir, dass die Blase praktisch gelähmt ist."

Den Wunsch nach einem Rollstuhl kann Christian begründen: Er hat oft die Erfahrung gemacht, sich für seine Einschränkungen rechtfertigen zu müssen. Wenn er im Rollstuhl säße, würden die Leute seinen Einschränkungen ein größeres Verständnis entgegenbringen, ist er sich sicher. "Jetzt ist es halt so, dass ich oft höre: Das geht ja schon irgendwie, du kannst doch laufen und du kannst doch alles machen. Wenn die Behinderung deutlich sichtbarer wäre, dann würde halt jede*r sehen: Oh, der hat ja vielleicht doch Recht", erklärt Christian. Er findet: Im Rollstuhl würde er eindeutig als Mensch mit Behinderung wahrgenommen werden.

Betroffene können ihren Wunsch nach einer Behinderung selber nicht erklären

Die Sehnsucht nach einer gelähmten Blase kann Christian aber nicht erklären. Er kann nur sagen: "Für mich fühlt sich Kathetern besser an als normal auf die Toilette zu gehen." Dass BID-Betroffene ihr Bedürfnis nach einer Behinderung, oder wie in Christians Fall nach einer stärkeren Behinderung, auch selber nicht erklären könnten, sei ganz typisch, meint Erich Kasten: "Interessanterweise können Betroffene ihr Bedürfnis ebenso wenig erklären wie Wissenschaftler*innen. Sie können selber keine Ursachen angeben und trotzdem ist dieser Drang da."

In der Tat vermögen Thomas und Julia ihr Bedürfnis nach einem Querschnitt genauso wenig begründen, wie Christian sein Bedürfnis nach einer gelähmten Blase. Julia sagt, sie sehne sich nach einem Querschnitt, weil sie so gehöre. Auch Thomas kann keine detaillierteren Ursachen seines Wunsches benennen. Er kann lediglich das positive Gefühl beschreiben, das er empfindet, wann immer er im Rollstuhl sitzt: "Es fühlt sich einfach richtig an, im Rollstuhl zu sitzen und meine untere Körperhälfte nicht zu bewegen."

Pretenden: Die Behinderung simulieren

Manchmal benutzt Thomas seinen Rollstuhl auch außerhalb von zu Hause. In fremden Städten, weit weg von seinem Alltagsleben, wo er keine Bekannten oder Arbeitskollegen*innen treffen könnte, denen gegenüber er sich erklären müsste. Dafür macht er entweder alleine oder gemeinsam mit seiner Partnerin Ausflüge, bei denen er die ersehnte Querschnittlähmung simuliert. Pretenden nennt sich das Simulieren einer Behinderung in der Fachsprache und sei unter BID-Betroffenen sehr verbreitet, wie Kasten erläutert. Thomas beschreibt: "Was ich am Pretenden mag ist, dass ich dann tatsächlich wahrgenommen werde als hätte ich den Querschnitt. Dadurch wird die Behinderung für mich überzeugender und greifbarer."

Aber Kasten weiß, dass das Pretenden für viele Betroffene nur eine vorübergehende, keine dauerhafte Befriedigung ihres Bedürfnisses nach einer Behinderung bringt. Einige seiner Patienten*innen hätten durch eine Operation im Ausland, wo sie Ärzte*innen gefunden hätten, die den Eingriff gegen Bargeld vorgenommen hätten, die ersehnte Behinderung herbeiführen lassen. "Ich kenne mittlerweile etliche Leute, die ich ohne körperliche Behinderung kennengelernt habe, die inzwischen körperbehindert sind", berichtet der Neuropsychologe.

Wird es bald die Möglichkeit geben, sich behindert operieren zu lassen?

Kasten spricht sich dafür aus, dass äquivalent zu geschlechtsangleichenden Operationen bei trans Menschen, auch für BID-Betroffene legale Wege geschaffen werden müssen, um ihren äußeren Körper operativ ihrem inneren Körper angleichen zu können. Nur so könnten diese Operationen in einem medizinischen Setting mit gesicherten Standards durchgeführt werden.

Julia würde vor einer operativen Maßnahme zum Erwerb einer Querschnittlähmung nicht zurückschrecken, auch wenn dieser Schritt selbstverständlich absolut irreversibel wäre: "Natürlich habe ich vor einem solchen Schritt auch Angst. Aber oft führt der Weg ja genau dort entlang, wo die größte Angst liegt." Auch Christian ist sich sicher, dass, wenn es eine legale Möglichkeit gäbe, sich seine Blase operativ lähmen zu lassen, er davon Gebrauch machen würde.

Thomas dagegen zögert: "Mir ist schon bewusst, was so ein Querschnitt alles mit sich bringt." Er ist froh, dass er sich diese Frage momentan noch nicht zu stellen braucht, da das Gesundheitssystem gar keinen Weg vorsieht, sich behindert operieren zu lassen. Aber das könnte sich in absehbarer Zeit ändern, denn wie Kasten betont: Die Weltgesundheitsorganisation habe BID nun in die elfte Version des internationalen Krankheitskatalogs aufgenommen, unter ICD-11. Der Katalog tritt 2022 in Kraft.

"Das Gesundheitssystem muss dann ja eine Therapie anbieten", findet Erich Kasten. Und da es – Stand der Forschung – keine andere wirksame Therapieform für BID gebe, wie Prof. Dr. Kasten berichtet, kann es sehr gut sein, dass Thomas eines Tages, in gar nicht so ferner Zukunft, vor der Frage steht: Will ich dauerhaft mit einer Querschnittlähmung leben?