Lange Zeit hatte Annegret Corsing das Gefühl, eine Art Doppelleben zu führen. Sie war gut in der Schule, nach ihrem Abitur zog sie von Berlin nach Hamburg und machte dort eine Ausbildung zur Fachinformatikerin. Später wurde sie Webentwicklerin, arbeitete über Jahre als freie IT-Beraterin und ging schließlich 2013 zu einem großen, amerikanischen Unternehmen.

Im Büro war sie die erfolgreiche, ehrgeizige Teamleiterin, karrieretechnisch lief es super. Ihr Privatleben: ein einziges Chaos. Oft kam die heute 41-Jährige morgens nicht aus dem Bett, Beziehungen hielten bei Annegret nie länger als vier Monate und wurden schnell zur emotionalen Katastrophe. Nie wusste sie so recht, warum. Bis sie der Sache vor 14 Jahren auf den Grund ging und eine Diagnostik in der Psychiatrie machte. Das Ergebnis: Annegret hat eine emotionale instabile Persönlichkeitsstörung. Borderline – bis heute ist das eine sehr stigmatisierte Diagnose. Und trotzdem, die gebürtige Berlinerin sagt: "Für mich war die Diagnose kein Schock, sondern eine Erleichterung. Das Kind hat einen Namen, und ich kann etwas tun, um damit besser zu leben."

Stress verschlimmerte die Erkrankung

Trotz der großen Schwierigkeiten im Privatleben spürte Annegret wegen ihrer Erkrankung zunächst kaum Auswirkungen im Beruf. Rückblickend weiß sie, dass das so nicht stimmt: "Ich bin ein Fluchttier. Immer, bevor es brenzlig geworden ist und ich eine Rolle hätte spielen können, habe ich den Job gewechselt", sagt die zierliche Frau mit den leuchtenden, grünen Augen und dem selbstsicheren Auftreten. Irgendwie ging es also immer, Annegret trieb ihre Karriere weiter voran. Bis sie 2013 in eine schwere Krise stürzte.

Die Berlinerin arbeitete zu der Zeit in einem großen amerikanischen Unternehmen. Privat bahnten sich gerade wieder große Beziehungsprobleme an. Wirklich schwierig wurde es, als von der Geschäftsführung plötzlich die Anweisung kam, dass Mitarbeiter*innen ab sofort nicht mehr von Zuhause aus arbeiten dürften. Eine Freiheit, die Annegret viel wert war. Jahrelang hatte sie davor als Selbständige gearbeitet, sie brauchte die Ruhe in den eigenen vier Wänden, manchmal zumindest. "Im Unternehmen arbeiteten wir im Großraumbüro, selbst die Rückzugsräume waren aus Glas gebaut", sagt sie.

Heute kann sie darüber schmunzeln. Damals war Annegret für 40 Mitarbeiter*innen zuständig, die jederzeit mit Anliegen an ihren Schreibtisch kommen konnten. "Mir war das zu anstrengend, ich brauchte die Möglichkeit, mal in Ruhe ein paar Stunden Zuhause arbeiten zu können." Stress ist einer der Faktoren, der ihr mit ihrer psychischen Erkrankung zusätzlich schwer zu schaffen macht.

Ich habe mich nicht mehr als Mensch wahrgenommen gefühlt, sondern als austauschbare Position.

Also schrieb sie eine Mail an die Geschäftsführung, ob sie ein bis zwei Mal die Woche im Home-Office arbeiten dürfe, nur morgens, nur dann, wenn sie keine Termine hatte. "Sie wussten von der Zeit, in der ich als Freelancerin für sie tätig war eigentlich, dass das bei mir gut funktioniert. Da war ihnen das auch immer egal." Plötzlich war es nicht mehr egal. Obwohl sich ihre Vorgesetzte für Annegret einsetzte, kam die Absage der Geschäftsführung, verständnis- und alternativlos.

Anderthalb Jahre krankgeschrieben

"Ich habe mich plötzlich überhaupt nicht mehr als Mensch wahrgenommen gefühlt, sondern als austauschbare Position, die man mindestens 40 Stunden in der Woche in ihrem Büro antreffen will", sagt sie. Daraufhin ließ sie sich zwei Wochen krankschreiben. Aus zwei Wochen wurden am Ende eineinhalb Jahre. Im Unternehmen ersetzte man ihre Position, nie fragten Vorgesetzte, wie es ihr geht. "Für mich war das eine total schwierige Situation. Mich überhaupt krankschreiben zu lassen, fühlte sich an, als würd ich aufgeben. Ich war ein sehr leistungsorientierter Mensch: Die Arbeit musste laufen, Scheitern gab es für mich nicht."

Drei bis vier Monate dauerte es, bis Annegret kein schlechtes Gewissen mehr hatte. Für sie auch ein gesellschaftlich anerzogenes Problem: "Ich habe schwere Therapiearbeit geleistet, aber das zählt ja in unserer Gesellschaft nicht viel. Es fehlt die Nachvollziehbarkeit, es fehlt der Gips am Bein, der beweist: Es geht wirklich gerade nicht, ich brauche eine Pause", sagt sie.

Schließlich überwand sie ihre Krise und wollte zurück in den Job: "Ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, etwas ganz anderes zu machen. Aber der Sicherheitsgedanke und das Pflichtbewusstsein drängten mich dazu, zurück zu meinem vorherigen Unternehmen zu gehen", erzählt sie. "Der Job hat mir auch wirklich Spaß gemacht, nur die Umstände waren eben nicht optimal."

Sie meldete sich bei ihrem Arbeitgeber und stieß auf wenig Entgegenkommen. Annegret sollte wieder 40 Stunden arbeiten, wieder sollte sie die Zeit zu 100 Prozent im Büro verbringen. Und weniger Verantwortung bekommen, als sie vorher hatte . "Das Wiedereingliederungsgespräch verlief ungefähr so: Sie fragten mich, ob ich wieder einsatzfähig sei, ich sagte Ja – und das wars mit der Eingliederung", erinnert sie sich.

Es fehlt der Gips am Bein, der beweist: Es geht wirklich gerade nicht, ich brauche eine Pause.

Annegret wollte aber keine 40-Stunden mehr arbeiten, sie schlug vor, ihre Arbeitszeit herunterzuschrauben. Dass sie als Frau ohne Kinder ein Teilzeitmodell wollte – unverständlich. Stattdessen bot man ihr eine Stelle als Assistentin an. Als Assistentin für ihre ursprüngliche Managerinposition. Suggeriert wurde ihr: Sie solle dankbar sein für dieses Angebot, nach so langer Ausfallzeit und mit psychischer Erkrankung. "Kommuniziert wurde übrigens nur per Mail oder über die Personalerin des Unternehmens. Einen direkten Kontakt zu mir hat die Geschäftsführung in der ganzen Zeit nicht einmal aufgenommen", sagt Annegret. Letztendlich lehnte sie die Stelle ab, verließ das Unternehmen und machte sich wieder selbständig.

Als Erfahrungsexpertin berät Annegret heute andere

Wenn Annegret spricht, lächelt sie viel. Mit ihrer Vergangenheit hat sie mittlerweile abgeschlossen, sie hat ihre Erfahrungen sogar für sich nutzen können: Vor ein paar Jahren gründete sie die erfahrungsexperten, ein gemeinnütziges Unternehmen, mit dem sie Training und Beratung für Betroffene anbietet. Sie bildet dort auch andere zu Erfahrungsexpert*innen aus, bietet Präventionstraining an und unterstützt Unternehmen und Betroffene bei der Wiedereingliederung.

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Annegret nennt es "ihr kleines Imperium". Einige ihrer Kurse werden sogar von der Krankenkasse bezahlt, andere finanziert sie über Fördergelder und Spenden. Über die Jahre hat sie mitbekommen, dass es bestimmte Muster gibt, die ihr immer wieder begegnen: "Wer aus einer Therapie in den Job zurückkehrt, wird oft nicht mehr als die gleiche Person angesehen, die er*sie vorher war, und auch nicht mehr als so leistungsfähig", sagt sie.

"Dabei weiß man danach viel besser: Wie funktioniere ich? Was waren meine alten Muster, wohin will ich nicht wieder zurück?" Gerade beim Wiedereinstieg sei es für Vorgesetzte schwer zu verstehen, dass Mitarbeiter*innen nicht sofort und zu 100 Prozent wieder loslegen könnten. "Das ist so absurd. Wenn jemand nach einem Beinbruch wieder zurückkommt, läuft er*sie doch auch nicht gleich einen Marathon. Und das hinterfragt keine*r", sagt Annegret.

"Ich bin immer noch die starke, kompetente Person von früher – und so viel mehr. Weil so viel mehr Erfahrung, Wissen und Selbsteinschätzung dazu gekommen ist." Annegret kämpft gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, im Privaten und im Beruf. Sie hat einen Blog und schreibt gerade auch an einem Buch über Resilienz und ihre Erfahrungen "Die Stärke, die darin liegt, sich seinen Problemen zuzuwenden, wird in unserer Gesellschaft leider immer noch als Schwäche gesehen."

Dabei gehören psychische Probleme zu den häufigsten Gründen, warum Arbeitnehmer*innen krank werden oder länger ausfallen. Darüber gesprochen, so Annegrets Erfahrung, wird aber selten bis nie. Die Unsicherheit in Unternehmen, bei Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen ist nach wie vor groß, wenn es um das Thema psychische Erkrankung geht. Die Unternehmenskultur, sagt Annegret, sie sollte sich ändern: "Psychische Krankheiten sind eigentlich kein Randthema mehr, werden aber immer noch zu einem gemacht."

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