"Wir waren auf dem Heimweg von der Arbeit. Die IRA hielt uns an, wir mussten uns entlang des Minibusses aufstellen, dann erschossen sie uns. Ich war der einzige, der überlebte. Zehn meiner Freunde wurden erschossen." Mit bebender Stimme erzählt Alan Black dem Journalisten Peter Oborne seine Geschichte. Black ist der einzige Überlebende des Kingsmill-Massakers, bei dem katholische Paramilitärs der Irish Republican Army zehn Protestanten erschossen. Erst einen Tag zuvor hatten protestantische Paramilitärs der Ulster Volunteer Force sechs katholische Zivilist*innen ermordet. Das war im Januar 1976. "Zu diesen Tagen zurückzukehren, ist undenkbar", sagt Black.

Von 1969 bis 1998 befand sich Nordirland in einem kriegsähnlichen Zustand. Überwiegend katholische Unterstützer*innen eines vereinigten Irlands kämpften gegen überwiegend protestantische Unterstützer*innen eines Vereinigten Königreichs sowie die britische Armee. Irische Republikaner*innen gegen britische Unionist*innen. Beide Konfliktparteien hatten bewaffnete, paramilitärische Einheiten. Mehr als 3.400 Menschen kamen im Nordirlandkonflikt ums Leben, etwa 40.000 wurden verletzt. 1998 unterzeichneten die beteiligten Parteien das sogenannte Karfreitagsabkommen, das den Konflikt befrieden sollte. Eine wichtige Bedingung des Abkommens: Offene Grenzen zwischen Nordirland und der Republik Irland im Süden.

Die Erfüllung dieser Bedingung ist seit 2016 in Gefahr. Da stimmte die Mehrheit der britischen Bevölkerung für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Seitdem stellt sich die Frage: Wie und wo soll eine Grenze das EU-Mitgliedsland Irland von Großbritannien trennen? Da Großbritannien nach dem Austritt nicht mehr Teil der Zollunion und des europäischen Binnenmarkts ist, müssten Waren kontrolliert und Zölle erhoben werden. Die eigentliche EU-Außengrenze würde durch die irische Insel verlaufen und die Republik von Nordirland trennen. Dies würde nicht nur gegen das Karfreitagsabkommen verstoßen, sondern auch der Wirtschaft beider irischer Staaten immens schaden.

Die Seegrenze

Der Brexit-Vertrag, den die britische Regierung und die EU im Oktober ausgehandelt haben, verschiebt die Grenze aus diesen Gründen ins Meer: zwischen Nordirland und England. Die Waren sollen in den Häfen der irischen See kontrolliert werden. Durch die offene Grenze hätte Nordirland weiterhin direkten Zugang zum EU-Binnenmarkt, und müsste sich, anders als der Rest Großbritanniens, weiter an zahlreiche EU-Vorschriften halten. Insgesamt umfasst das Austrittsabkommen allein zur nordirischen Grenze 64 Seiten mit vielen Ausnahmeregelungen. Ob es bei dieser Lösung für die Grenze bleibt, ist indes ungewiss: Großbritannien wird im Dezember ein neues Parlament wählen, das alles anders machen könnte.

Wenn wir die EU verlassen, dann als Vereinigtes Königreich.
Mark Cambell

In Nordirland ist man über keine Version der Grenze glücklich, egal ob im Meer oder auf dem Land. "Die Seegrenze war nicht Teil des Deals", sagt Mark Cambell, der im Belfaster Stadtteil Shankill wohnt, eine Hochburg der britischen Unionist*innen. "Wenn wir die EU verlassen, dann als Vereinigtes Königreich." Die Leute in Shankill hätten Angst, dass die britische Regierung sie im Stich lasse. Sollte die Seegrenze kommen, würden Tausende dagegen auf die Straße gehen, glaubt er.

Die Landgrenze

Eine Alternative zur Seegrenze wäre, die Kontrollen an der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland wieder einzuführen. Die Landgrenze ist etwa 500 Kilometer lang und hat 300 offizielle und weitaus mehr inoffizielle Übergänge. Während des Nordirlandkonflikts wurde diese Grenze von britischen Militärs kontrolliert. "Es wird immer von der irischen Grenze gesprochen, dabei ist das keine irische Grenze", sagt der Republikaner Gleann Doherty. "Das ist eine britische Grenze in Irland."

Doherty wohnt in Derry. Hier fand im Januar 1972 der Bloody Sunday statt, bei dem das britische Militär 13 unbewaffnete Zivilist*innen auf einer Demonstration erschoss. Dohertys Vater war einer von ihnen. Er erinnert sich noch an den Konflikt. Die täglichen Schusswechsel, die Bombenexplosionen. Die Hausdurchsuchungen, bei denen Polizei und Militär schonungslos Türen eintraten und Wohnungen verwüsteten. Die Fahrt ans Meer, eine Strecke von 15 Minuten, für die man wegen der Grenzkontrollen meistens zwei Stunden brauchte.

Das ist keine irische Grenze, das ist eine britische Grenze in Irland.
Gleann Doherty

"Sollte das britische Militär wieder die Grenze kontrollieren, würde das der New IRA Auftrieb geben", meint Doherty. Die New IRA ist eine paramilitärische Einheit, die bis heute am bewaffneten Kampf gegen Großbritannien, in ihren Augen eine Besatzungsmacht, festhält. "Das sind alles junge Burschen, 18, 19, 20 Jahre alt", sagt Doherty. Sie hätten den Krieg nicht miterlebt und empfänden dennoch nostalgische Gefühle dafür. Bislang hätte die Gruppe keinen Rückhalt in der irischen Bevölkerung Nordirlands. Britische Soldat*innen, die eine für Ir*innen nicht zu akzeptierende Grenze kontrollieren, könnten das ändern, glaubt Doherty.

Eine Chance auf ein vereinigtes Irland?

Sinn Féin ist die Partei der irischen Republikaner*innen. Viele Mitglieder kämpften früher auch mit Waffen und Bomben für ihr Ziel, ein wiedervereinigtes Irland. Einer von ihnen ist Robert McClenaghan. "Die New IRA sucht eine Legitimation für den bewaffneten Kampf", meint er. Er selbst glaubt an den Friedensprozess und ist damit in den Augen der New IRA ein Verräter an der Sache. Das Ziel eines vereinigten Irlands hat er jedoch nicht aufgegeben. "Der Brexit kann eine große Gefahr oder eine enorme Chance sein", sagt er.

Einerseits bedrohe der Brexit den fragilen Frieden Nordirlands – andererseits ermögliche er die Chance auf ein Referendum über eine Wiedervereinigung Irlands. Im Friedensvertrag von 1998 steht, dass Großbritannien dieses Referendum billigen muss, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Wiedervereinigung steht. McClenaghan glaubt, dass der Brexit die Chance auf eine friedliche Verwirklichung des republikanischen Ziels sein kann.

Lässt Großbritannien Nordirland los?

Der Traum McClenaghans ist wiederum der größte Albtraum der britischen Unionist*innen. Die Democratic Unionist Party (DUP) ist die größte protestantische und unionistische Partei in Nordirland. Sie befindet sich in einer Zwickmühle: Einerseits unterstützt sie die britischen Konservativen im Parlament in Westminister und warb 2016 für einen Austritt aus der EU. Andererseits akzeptiert die Partei keine Seegrenze zwischen Nordirland und Großbritannien und fühlt sich durch Johnsons Abkommen mit der EU hintergangen. Zumal konservative Stimmen lauter werden, die den Erhalt Großbritanniens in seiner derzeitigen Form infrage stellen. "Nordirland ist eine Bürde für den Rest Großbritanniens. Wir können es nicht den Brexit verhindern lassen", schrieb beispielsweise David Green, Direktor eines einflussreichen konservativen Thinktanks im Telegraph.

Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob ein Brexit kommt und was das für Nordirland bedeutet. Sollte er kommen, könnte er gravierende Folgen haben: Sowohl ein Austritt aus der EU als auch eine mögliche Wiedervereinigung Irlands könnten alte Konflikte wieder aufbrechen lassen – und in Gewalt enden.