Achtung, Triggerwarnung! Dieser Beitrag enthält Schilderungen häuslicher Gewalt.

"Ich hätte viel früher gehen sollen", sagt Autorin, Bloggerin und Model Nadine aus Berlin, wenn sie heute von ihrer Beziehung mit Christopher* (32) erzählt. Ein Jahr und drei Monate waren sie ein Paar – eine Zeit, die Nadine nie vergessen wird. Weil sie zu der schwersten und prägendsten ihres Lebens gehört.

Dabei fing alles so wunderbar an. Nadine und Christopher lernten sich 2014 über gemeinsame Freund*innen beim Feiern kennen und es hat sofort gefunkt: "Neben ihm wirkte alles recht einfach und entspannt, irgendwie sicher", sagt die 29-Jährige, "und er hat mich sehr umworben". Schon nach einem halben Jahr zogen sie zusammen: "Wir brauchten beide eine neue Wohnung zu dem Zeitpunkt und es hat sich so ergeben."

Doch kurz darauf bekam ihr Liebesglück tiefe Risse. "Zeitgleich mit dem Einzug in unsere gemeinsame Wohnung verlor er seinen Job und fing an, sich immer mehr zurückzuziehen", erzählt Nadine. Etwas Wesentliches veränderte sich. Der Mann, der gerne rausgegangen und gesellig gewesen war, viel Wert auf sein Äußeres gelegt hatte, blieb auf einmal zu Hause, wurde immer antriebsloser. "Vor allem wurde er misstrauisch und eifersüchtig – unbegründet", sagt Nadine. Hilfe verweigerte er.

Schuldgefühle und Ohnmacht

Die Abwärtsspirale der Depression drehte sich unaufhörlich und irgendwann begann Christopher jeden Morgen mit dem Satz: "Ich wünschte, ich wäre tot." Nadine fühlte sich ohnmächtig, hilflos, ängstlich, überfordert. Sie rutschte in eine Co-Depression und ging weit über ihre Grenzen, um ihrem Freund zu helfen. "Ich dachte damals, das wäre empathisch", sagt sie heute. "Rückblickend weiß ich, dass es Hilflosigkeit war. Ich hatte Angst, alles schlimmer zu machen, wenn ich ihn zurück- und zurechtweise."

Ich hatte Angst, alles schlimmer zu machen, wenn ich ihn zurück- und zurechtweise.
Nadine

Doch in dem Moment, als Nadine die Wohnung verlassen wollte und Christopher die Tür abschloss, auf das Mobiliar und auch auf sie losging, wurde ihr klar: So kann es nicht weitergehen – aber wie dann? Nach zwei Suizidversuchen von Christopher war Nadine am Ende. Trotzdem hat es noch drei Monate gedauert, bis sie die Kraft hatte, ihn zu verlassen.

"Ich hatte große Angst, dass er sich wieder was antut", sagt sie. Die Schuldgefühle waren überwältigend. Sie verbrachte immer mehr Zeit bei Freund*innen. "Er war einfach unkontrollierbar, immer wieder schwankte er zwischen Nervenwrack und tickender Zeitbombe."

Letztlich zog Nadine an Weihnachten aus: "Die Trennung war sehr dramatisch", sagt sie. "Er benutzte seine Suizidversuche als emotionales Druckmittel." Doch es ging nicht mehr. Das Schwierigste für Nadine war, sich von Christophers emotionalem Leid zu distanzieren: "Ich habe meine Bedürfnisse komplett zurückgestellt." Zeichen für eine Co-Depression.

Er benutzte seine Suizidversuche als emotionales Druckmittel.
Nadine

"Es war richtig gruselig"

So ähnlich klingt die Geschichte von Alina* und Jannik*. Auch sie lernten sich über gemeinsame Freund*innen kennen, auch bei ihnen sprang direkt der Funke über und ihr Liebesglück war anfangs perfekt: "Die Beziehung lief traumhaft. Wir waren beide sehr verliebt, verbrachten viel Zeit zusammen, waren viel draußen, sind zusammen gereist und hatten ständig wunderbaren Sex", erzählt Alina, die unter Pseudonym ein Buch über Janniks Depression und ihre Co-Depression geschrieben hat: Die Liebe in dunklen Zeiten.

Auch bei Alina und Jannik zogen schon bald düstere Wolken auf. Die beiden waren ein paar Wochen zusammen und gemeinsam auf einer Dienstreise, als Alina merkte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte: "Er kam und kam nicht vom Kunden zurück, war nicht mehr telefonisch erreichbar. Ich saß im Hotelzimmer und dachte, er hätte vielleicht was mit einer anderen Frau oder seine Ex wieder getroffen."

Doch der Grund für Janniks Wegbleiben war ein anderer, gravierenderer. "Als er dann kam, war er völlig verändert, schwitzte, sah bleich und krank aus und war kaum ansprechbar. Es war richtig gruselig", erzählt Alina. Das war nur der Anfang. "Er wurde immer düsterer und stiller, konnte kaum noch lachen", sagt sie. Wie Christopher wollte auch Jannik nicht mehr das Haus verlassen, keine Leute mehr treffen, zog sich immer mehr zurück.

Und wie Nadine litt auch Alina mit – Co-Depression. Das Schlimmste war damals für sie, "ihn leiden zu sehen, nicht helfen zu können und meine Träume von einer lebenslangen Beziehung mit ihm sehr gefährdet zu sehen".

Er wurde immer düsterer und stiller, konnte kaum noch lachen.
Alina

Es dauerte, bis den beiden klar wurde, was da eigentlich los war. "Depression steht ja nicht drüber. Das ist eine Krankheit, die sich massiv auf der Beziehungsebene ausdrückt, weil die Betroffenen sich sozial nicht mehr richtig verbinden können", meint Alina. "Und bei vielen, so auch bei Jannik, erlischt die Libido fast ganz. Das hatte zur Folge, dass wir beide zuerst dachten, mit unserer Liebe wäre etwas nicht in Ordnung."

Irgendwann kam das Wort Depression auf – ein wichtiger erster Schritt. Und der Beginn eines langen, anstrengenden gemeinsamen Weges. Auf die Frage, ob es einen Moment gab, an dem sie nicht mehr konnte, antwortet Alina: "Ja, etwa 38-mal im Jahr."

Das sagt der Experte zu Co-Depression

Eine Depression belastet die Beziehung schwer, Partner*innen schwanken oft zwischen Ohnmacht und Verzweiflung und leiden so sehr mit, dass es in vielen Fällen zu einer Co-Depression kommt. Professor Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, sagt dazu: "Die Erkrankung hat massive Auswirkungen auf die Partnerschaft und Familie."

Oft bleiben Depressionen lange unerkannt, die Betroffenen suchen sich in der Folge der depressionsbedingten Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit keine professionelle Hilfe. Oder sie interpretieren die Depression nicht als Krankheit, sondern als persönliches Versagen. Und das ist definitiv nicht der Fall. "Depressionen sind schwere eigenständige Erkrankungen", so der Experte.

Depressionen sind schwere eigenständige Erkrankungen.
Professor Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe

Aber es ist für Partner*innen und Betroffene auch schwer, die Depression überhaupt zu erkennen. Dann bestehe laut Professor Hegerl das Risiko, das veränderte Verhalten des*der Erkrankten falsch zu interpretieren: "Die Rückzugsneigung kann beispielsweise als Lieblosigkeit oder die Antriebslosigkeit als Bequemlichkeit gedeutet werden." Und das könne bei Partner*innen Enttäuschung, Frustration und Ärger auslösen.

Dazu kommen unter anderem Persönlichkeitsveränderungen bei von einer Depression Betroffenen, die ohne entsprechende Diagnose schwer einzuordnen sind. "Der Charakter wird als etwas kaum veränderbares angesehen, es gibt jedoch tiefgehende Veränderungen im Erleben und Verhalten in einer depressiven Krankheitsphase, die Symptome dieser Erkrankung sind – wie das Fieber bei einer Grippe", sagt der Professor. "Die Depression sucht immer nach negativen Dingen im jeweiligen Leben, vergrößert diese und rückt sie ins Zentrum des Erlebens. Dann führt die innere Dauerspannung in der Depression dazu, dass die Erkrankten sich zurückziehen, keine Ablenkung oder Stimulation von außen wollen, sondern am liebsten die Decke über dem Kopf und Ruhe."

Typisch für eine depressive Erkrankung sind beispielsweise verstärkte Neigung zu Schuldgefühlen, eine permanente innere Daueranspannung und Erschöpfung, Appetitmangel.
Professor Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe

Hegerl nennt noch ein paar weitere Anzeichen, an denen sich eine Depression erkennen lässt: "Typisch für eine depressive Erkrankung sind beispielsweise verstärkte Neigung zu Schuldgefühlen, eine permanente innere Daueranspannung und Erschöpfung, Appetitmangel. Hinzu kommen Tagesschwankungen mit größerer Depressionsschwere am Morgen und hartnäckige Schlafstörungen." Die Diagnose müssen aber letztlich Fachärzt*innen stellen. Oft sind Termine dort allerdings nicht so einfach zu bekommen.

Wie bei jeder schweren Krankheit reagieren Angehörige mit Sorgen, Mitleid, Hilflosigkeit oder auch Wut. Laut der Untersuchung Deutschland-Barometer Depression entwickeln auch 73 Prozent der Partner*innen Schuldgefühle. Wichtig sei deshalb für Angehörige, sich im ersten Schritt klarzumachen, dass sie nicht schuld an der Depression seien. Professor Hegerl: "Das gilt auch, wenn es vorher vielleicht Konflikte und Spannungen in der Beziehung gab. Angehörige sind auch nicht verantwortlich für die Heilung."

Obwohl Unterstützung wie bei jeder Erkrankung durchaus wichtig sei, sollten sich Partner*innen von Menschen mit Depression ihre Grenzen bewusst machen: "Angehörige können eine Depression mit Liebe und Zuwendung ebensowenig heilen wie Diabetes oder andere Erkrankungen. Verantwortlich für die Behandlung sind Ärzte und psychologische Psychotherapeuten", stellt der Experte klar.

Und auch weil es konkret Leben retten kann, ist es so wichtig, sich gründlich über das Thema Depression und Co-Depression zu informieren. "Wenn sich ein Partner oder eine Partnerin völlig verändert, tief verzweifelt wirkt und vielleicht sogar Suizidgedanken äußert, dann sollte schnellstens professionelle Hilfe geholt werden", sagt Professor Hegerl. "Bei erhöhter Suizidgefährdung kann auch der Notarzt verständigt werden."

Angehörige sind nicht verantwortlich für die Heilung.
Professor Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe

Eine Depression ist eine ernsthafte, potenziell tödliche Krankheit, die nicht durch bloße Willensanstrengung oder gutes Zureden zu überwinden ist. Liebe ist wichtig, aber sie allein ist nicht genug.

Manchmal ist die Dunkelheit so ausgedehnt und tief, dass sie selbst die größte Liebe schluckt, den*die Partner*in mit in den Abgrund reißt und die Beziehung zermürbt. "In unserem Deutschland-Barometer Depression berichteten 45 Prozent der Betroffenen, dass es aufgrund der Depression zu einer Trennung gekommen ist", sagt Professor Hegerl.

Doch das ist nur eine Seite. Es gibt auch Fälle, in denen die Beziehung durch eine Depression stärker wird. "Ein Teil der Betroffenen berichtete rückblickend von positiven Erfahrungen", so Hegerl. "36 Prozent gaben an, dass das gemeinsame Durchstehen der depressiven Krankheitsphase die Beziehung sogar vertieft und gefestigt habe."

Als Paar gemeinsam wachsen

Ziemlich genau so lief es letztlich bei Alina und Jannik. "Wir sind jetzt bald zwölf Jahre zusammen", sagt Alina. "Es geht uns gut, wir sind glücklich und stabil." Die beiden haben es geschafft, Janniks Depression als Chance zu nutzen, zusammen wichtige Themen anzugehen und sich dadurch zu entwickeln.

"Die Depression stellt alle, aber auch wirklich alle wesentlichen Lebens- und Liebesfragen an ein Paar", sagt Alina. "Wenn es gelingt, die gemeinsam anzugehen – am Besten unterstützt durch kompetente und depressionserfahrene Paartherapeuten plus einzelne Psychotherapien –, dann wächst ein Paar daran. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Aber so ist es bei uns gewesen."

Entscheidend war, auf der Suche nach guten Ärzt*innen, Therapeut*innen und Behandlungsmöglichkeiten nicht aufzugeben. "Wir hatten das Glück, in einer Großstadt zu leben, da gibt es immerhin eine Auswahl", sagt Alina. "Aber auch da muss man oft lange suchen, bis man wirklich gute Leute findet."

Nicht nur Jannik hat eine Therapie begonnen, auch Alina. Rückblickend hätte sie viel früher damit anfangen sollen, sagt sie. Und sie würde ihm auch deutlich weniger abnehmen. "Nur ganz am Anfang, bis er oder sie eine Therapie hat. Dann Finger weg von Hilfeleistungen und Liebespartnerin bleiben", sagt Alina heute. Sonst verändere sich die Beziehungsdynamik und aus Liebenden würden Hilfebedürftige*r plus Helfende*r: "So war das bei uns lange und das war gar nicht gut."

Was ihnen sonst auf dem Weg durch die Depression geholfen hat? "Ehrlichkeit und Respekt füreinander", sagt Alina. Die beiden haben vereinbart, dass Jannik Alina immer freundlich und respektvoll behandelt. Auch wenn er sehr gereizt oder erschöpft war, hat er sich Mühe gegeben. "Und dass ich irgendwann – zu spät – angefangen habe, bewusst schöne Dinge für mich zu machen und nicht immer darauf zu warten, dass er mitmacht. Weil er das ja nicht konnte", so Alina.

Im Verlauf der Krankheit und Therapie sei Jannik nach und nach immer mehr er selbst geworden, sagt Alina heute. "Er brauchte Psychotherapie und viel Zeit, um langsam zu lernen, wie er zu sich selbst stehen kann. Das gelingt ihm mit jedem Jahr besser und er ist dadurch immer glücklicher und gesünder."

Die beiden haben es geschafft. Aber es ist genauso okay, einen Schlussstrich zu ziehen, wenn es nicht mehr geht und Depression und Co-Depression zu stark sind – so, wie es Nadine getan hat.

Nur, wer selbst Kraft hat, kann was abgeben

"Am Ende war ich co-depressiv und einfach nur erschöpft und ängstlich. Das Leben machte mir Angst", sagt Nadine. "Ich kann jedem nur raten, in so einer Situation psychologische Hilfe zu suchen und auch die Familie zu Rate zu ziehen."

Es sei hilfreich, meint Nadine, Unterstützung zu haben, sich mit Menschen auszutauschen und mit der Co-Depression nicht allein zu sein. Das bestätigt auch Professor Hegerl: "Der Austausch mit anderen, die in einer ähnlichen Situation sind, kann entlasten." Dazu gehören auch Angehörigengruppen.

Es gibt durchaus einiges, was Nadine heute anders machen würde. Vor allem aber würde sie mehr auf sich selbst achten: "Man kann Hilfe anbieten, aber man muss auch die eigenen Ressourcen schützen. Die eigene Gesundheit muss immer an erster Stelle stehen."

Ähnliche Erfahrungen hat auch Alina gemacht, darum rät sie Menschen mit Co-Depression: "Den Partner oder die Partnerin so viel wie möglich selbst machen lassen. Auf keinen Fall zum wichtigsten Helfer werden." Stattdessen dabei helfen, gute Helfer*innen zu finden – vorausgesetzt, der*diejenige ist bereit und in der Lage.

Die eigene Gesundheit muss immer an erster Stelle stehen.
Nadine

Auch auf Alkohol und Drogen zu verzichten, habe ihrer Beziehung in der schweren Zeit gutgetan. "Und ich würde unbedingt auf getrennten Wohnraum achten, um einfach eigenen Raum zu haben, der nicht unter der Glocke der Depression steht", sagt sie. "Das zieht nämlich extrem runter und man merkt es kaum, weil es so schleichend und alltäglich ist."

Unterm Strich sei es wichtig, meint Alina, nicht gegen die Depression zu leben – sondern mit ihr: "Und dem festen Ziel, es gemeinsam zu schaffen."

Ja, eine Depression kann die Beziehung sehr belasten. Gerade deshalb muss man auf sich selbst achten und die Balance zwischen Unterstützung für den*die Partner*in und der eigenen seelischen Gesundheit wahren. Eine Lektion fürs Leben, findet Nadine: "Heute geht es mir gut. Ich habe gelernt, dass jeder Mensch Grenzen hat und dass auch geteiltes Leid immer noch Leid ist. Das war wichtig."

Und inzwischen ist Nadine der Erfahrung und der Co-Depression fast dankbar: "Auch wenn ich viele schlaflose Nächte, Panikattacken und unschöne dunkle Phasen hinter mir habe – sie haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin."

*Name geändert

Hilfe holen

Falls du unter Depressionen leidest und dich Suizidgedanken plagen, findest du bei der Telefonseelsorge online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen. Angehörige, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben, können sich an den AGUS-Verein wenden. Der Verein bietet Beratung und Informationen an und organisiert bundesweite Selbsthilfegruppen.

Weitere Hilfe und Infos für Partner*innen gibt es hier: