Es wäre ein Leichtes, eine Wohngemeinschaft in einen Corona-Hotspot zu verwandeln. Mitbewohner*innen können verschiedene Freundeskreise und unterschiedliche Gewohnheiten haben, Alltag und Freizeit zu gestalten. Freund*innen einladen, Tinderdates treffen, Filmabende und gemeinsame Essen – man müsste streng genommen auf alles verzichten. Viele machen es trotzdem. Wie einigt man sich als WG auf gemeinsame Verhaltensregeln während der Pandemie?

Die Student*innen Tina (22), Tanja (21), David (23) und Emil (22) sind vier von sechs Bewohner*innen einer Wohngemeinschaft im Berliner Ortsteil Schöneberg. ze.tt haben sie erzählt, wie sie ihr Zusammenleben gestalten, welche Regeln sie untereinander vereinbart haben und wie sich ihr Verhältnis in der WG verändert hat.

ze.tt: Ihr seid eine große WG, da ist es sicher Thema, dass alle die Beschränkungen einhalten. Wie habt ihr das am Anfang gelöst?

Tina: Wir haben uns immer wieder zusammengesetzt und Regeln vereinbart. Ganz am Anfang hatten wir zum Beispiel beschlossen, niemanden mehr zu treffen. Über mehrere Monate durfte niemand mehr mit in die Wohnung kommen. Später war es dann für uns okay, uns draußen mit Menschen zu treffen. Ohne Umarmungen und natürlich mit Abstand halten.

Emil: Nach der ersten strengen Phase haben wir festgelegt, dass jede*r zwei Menschen pro Woche sehen darf. Nicht mehr. Allerdings immer mit Abstand.

Tanja: Wir mussten zwei Quarantänesituationen durchmachen. Da kamen mehr Regeln hinzu. Eine Woche lang haben wir beispielsweise Küchenzeiten abgemacht und über Telegram abgesprochen, wer wie lange die Küche benutzt. Danach haben wir jedes Mal die Oberflächen desinfiziert und die Türklinken gereinigt. Es gab allerdings auch eine große Diskrepanz zwischen dem, was wir in unseren ambitionierten WG-Besprechungen vereinbart hatten, und wie wir letztendlich emotional mit der Situation umgegangen sind. Wir wollten uns, glaube ich, alle so weit einschränken wie möglich, ohne zu wissen, wie schwer es wird.

Es scheint, als hättet ihr die Pandemie von Anfang an ernst genommen.

Tina: Das war eine Entwicklung. Am Anfang war ich sehr überfordert und wollte mich erst mal an alle Regelungen halten. Auch als WG haben wir das Ganze, im Vergleich zu unseren Freund*innen, sehr ernst genommen. Über den Sommer hat sich das zwar entspannt, aber wir haben trotzdem nicht viele Leute zu uns eingeladen. Mir war klar: Wir müssen zusammenhalten, ich kann in meiner privilegierten Situation jetzt auch zurückstecken und nicht feiern gehen.

Emil: Wir hatten ursprünglich das Ziel, noch vernünftiger zu sein, als die Politik von uns verlangte und haben uns deshalb auf anfangs sehr strenge Regeln geeinigt. Eine Zeit lang war ich echt emotional und bin schwer damit klargekommen, dass andere lockerer damit umgehen als unsere WG. Ich habe einen Vater, der 75 Jahre alt ist. Ich treffe ihn nicht, wenn ich in der Woche davor relativ viele Leute gesehen habe und versuche, mindestens vier Tage bevor ich ihn sehe meine Kontakte zurückzuschrauben, um das Risiko zu minimieren, ihn anzustecken.

Wir hatten anfangs das Ziel, noch vernünftiger zu sein, als es die Politik von uns verlangte.
Emil

Fandet ihr es schwierig, die Regeln einzuhalten? Kam es zu Konflikten?

Emil: Als ich unseren strengen Regelkatalog zum ersten Mal vor mir sah, wusste ich sehr schnell, dass mir das zu viel wird. Tanja kam gerade aus Ecuador zurück und musste zwei Wochen in Quarantäne. Dass wir uns entschieden haben, uns von ihr auch innerhalb der WG zu distanzieren, hat für mich das Fass zum Überlaufen gebracht. Weil damit die WG nicht mehr mein Safe Space war, wo ich sorgenfrei leben konnte. Ich habe dann die Entscheidung getroffen, vorübergehend in die leerstehende Wohnung meiner Mutter zu ziehen. Dort konnte ich eine Zeit lang mit mir alleine verbringen.

David: Die Stimmung ist auch einmal hochgekocht, als der letzte Tag von Tanjas Quarantäne näherkam. Wir hatten eine Diskussion darüber, wann der letzte, also der 14. Tag, genau vorbei ist. Ist das an dem Morgen, oder am Abend oder doch erst am nächsten Tag in der Früh?

Emil: Insgesamt gab es kleine Streitigkeiten, manchmal sind Aussagen gefallen, die manche in den falschen Hals bekommen haben, wie zum Beispiel, "Ich fühle mich wie ein Kind, das von meinen Eltern Hausarrest bekommen hat". Aber wir pflegen in der WG eine recht offene Kommunikation und haben schlechte Stimmung immer schnell aus der Welt geschafft. Gerade wegen Corona wurde es uns allen wichtig, die Stimmung in der Wohnung stabil und gut zu halten.

Tina: So ein Kommentar klingt jetzt nicht schlimm, aber wir waren alle emotional geladen. Deswegen kam es vor, dass auch harmlose Aussagen wie diese manchmal persönlicher aufgefasst wurden. Am Ende war es uns aber klar, dass niemand irgendwem Schuld zuschieben wollte. Wir haben die Regeln ja gemeinsam im Konsens beschlossen. Jede*r von uns war beizeiten mal überfordert. Wir haben das geklärt, in dem wir uns Fragen wie "Wie fühlt sich dein Kommentar für mich an" und "Was wolle ich eigentlich damit ausdrücken" gestellt haben.

Mir war klar: Wir müssen zusammenhalten, ich kann in meiner privilegierten Situation jetzt auch zurückstecken und nicht feiern gehen.
Tina

Sanktioniert ihr denn, wenn sich jemand nicht an die Regeln gehalten hat?

David: Die wurden nie im großen Stil gebrochen. Nur im Kleinen, und dann ist nichts passiert. Man darf ja auch nicht vergessen, dass wir uns diese Regeln selbst auferlegt hatten, weil wir das so wollten. Wir haben uns alle gemeinsam dafür entschieden.

Emil: Manchmal lässt es sich auch nicht verhindern. Ich war vor Kurzem mit einem Kommilitonen unterwegs, als ein Freund von ihm zufällig dazukam und wir auf einmal zu dritt waren. Streng genommen war das schon ein Regelbruch. Wir haben von solchen Fällen einfach in der WG erzählt. Manchmal haben wir deswegen infrage gestellt, ob bestimmte Regeln überhaupt sinnvoll sind. Aber Sanktionen gab es keine.

Tina: Wir haben uns alle paar Wochen zusammengesetzt und über unsere Situation gesprochen. Welche Regeln sind wirklich notwendig? Müssen wir das wirklich so handhaben? Ein paar wollten es strenger, andere nicht so streng, aber am Ende haben wir immer einen Kompromiss gefunden. Zum Beispiel haben wir die Regel, gar niemanden zu treffen, irgendwann aufgelöst. Das Risiko, sich draußen beim Spaziergang mit Abstand anzustecken, ist sehr gering. Als Ersatz haben wir erst die Zwei-, dann die Dreipersonenregeln eingeführt. Wir haben uns dabei auch immer an den Vorgaben der Politik orientiert. Als es hieß, man darf wieder fünf Leute treffen, haben wir das auch getan. Es gab nach fast jedem unserer WG-Gespräche kleine Änderungen.

Wie ist das jetzt, wo die Zahlen wieder steigen und erneut Beschränkungen beschlossen werden? Gibt es wieder strenge Regeln?

David: Die Regeln sind ein bisschen mehr dem Vertrauen gewichen. Wir haben seit dem starken Anstieg der Infektionszahlen noch nicht gesondert darüber geredet. Wir haben aber alle gemerkt, dass die Situation wieder ein bisschen brenzliger wird und wir daher weniger Leute sehen sollten. Es sind zurzeit alle auf Vorsicht gepolt, aber wir haben keine neuen Regeln erstellt.

Tanja: Die Fallzahlen sind gestiegen und zack, ich hatte Corona. Also mussten wir ohnehin in Quarantäne.

Ihr habt eben erzählt, es gab sogar zwei Quarantänesituationen. Wie sind die abgelaufen?

Tanja: Ja, einmal, als ich im Mai aus Ecuador zurückkam und jetzt Anfang Oktober noch einmal. Beim ersten Mal hat sich die WG räumlich komplett von mir abgegrenzt. Ich musste die Quarantäne alleine in meinem Zimmer machen. Das fand ich schon erst mal blöd und traurig, weil ich mich gefreut hatte, alle wiederzusehen. Ich hab das aber verstanden. Die WG hat auch versucht, meine Zeit im Zimmer nach Möglichkeit schön zu machen. Ich wurde bekocht, sie haben mir einen kleinen Briefkasten gebastelt und mir kleine Aufmerksamkeiten wie Baklava oder kurze geschriebene Nachrichten von gemeinsamen Freund*innen mitgebracht. Tina hat ihren Geburtstag sogar im Flur vor meiner Zimmertür gefeiert. Aber es war schwierig, sich von den einzigen Leuten, die man überhaupt sehen konnte, auch noch zu isolieren.

Tina: Der Sinn einer Quarantäne ist ja, so zu tun, als hätte man Corona. Sonst könnte man sich das Ganze ja sparen. Deshalb haben wir entschieden, dass Tanja sich isolieren muss. Wir haben dann einfach versucht, das Beste draus zu machen.

Und jetzt im Herbst hattest du, Tanja, dann tatsächlich das Coronavirus?

Tanja: Genau, aber diesmal musste die ganze WG in Quarantäne, weil man als Mitbewohner*in als Kontaktperson gilt.

David: Angesteckt hat sie übrigens niemanden von uns.

Wie hat sich das WG-Leben während Corona verändert?

Tina: Als WG gehen wir gerne auf Demos, versuchen, uns politisch zu engagieren. Wir sind vor Corona viel auf Konzerte und Partys gegangen, haben viele Leute zu uns eingeladen. Wir waren normalerweise immer der Treffpunkt unseres Freundeskreises. Das fehlt.

Emil: Davor war eigentlich immer jemand zu Besuch. Wir hatten öfters bis zu neun Leute zu Gast, die auch mal bei uns geschlafen haben. Anfang des Jahres waren auch noch Couchsurfer da.

Die Regeln sind ein bisschen mehr dem Vertrauen gewichen.
David

Apropos Besuch: Hat sich euer Datingverhalten aufgrund der Einschränkungen verändert?

Tina: Kurz vor Corona habe ich mich mit jemandem getroffen und als die Regeln dann krasser wurden, haben wir uns nur noch draußen gesehen. Mittlerweile ist das auseinandergegangen. Jetzt ist es sowieso schwierig, jemanden zu daten. Man muss immer schauen, wo man sich trifft und wer zum auserwählten Kreis der Kontaktpersonen gehören soll. Das hat die Leichtigkeit sehr genommen.

David: Meine Story ist gut ausgegangen, ich habe jetzt eine Freundin. Wir hatten uns vor Corona kennengelernt und waren dann beide getrennt im Ausland, haben uns deshalb länger nicht gesehen. Als wir beide wieder in Berlin waren, haben wir uns mit Abstand getroffen und waren uns erst mal nicht sicher, ob wir jetzt Kontaktpersonen sein wollen oder nicht. Ich habe dann mit der WG darüber gesprochen. Sie hatten kein Problem damit, dass ich eine Kontaktperson mehr habe.

Emil: Ich hatte mich in den Wochen vor Corona gerade mit Tinder angefreundet und habe einige Leute getroffen. An dem letzten Abend, an dem die Bars noch offen hatten, hatte ich noch ein Tinder-Date, das auch sehr hoffnungsvoll ausging, sich durch Corona aber verlaufen hat. Ich habe jetzt für mich entschieden, mich erst mal nicht mehr mit neuen Tinder-Dates zu treffen. Das ist relativ klar für mich. Das könnte ich nicht mehr verantworten.

Tanja: Es gehört ja irgendwie auch zusammen: Wenn wir beschränken, wie viele Leute jede*r von uns noch treffen darf, ist auch das Datingverhalten betroffen.

Mittlerweile haben wir Erfahrung mit dem Leben mit Corona gesammelt.
Tanja

Seid ihr durch die Pandemie als Wohngemeinschaft enger zusammengewachsen?

(alle nicken heftig)

Emil: Voll, total!

David: Wir machen viel mehr zusammen. Wir haben zwar auch davor schon viel zusammen gemacht, aber jetzt gestalten wir unsere Alltage auch mehr gemeinsam.

Emil: Wir kochen mehr miteinander. Wir hatten auch schon zwei WG-interne Themenpartys gemacht, einmal eine Beachparty und einmal eine

Herr-der-Ringe-Party. Da haben wir uns verkleidet und die Filme geguckt. Wir versuchen unser Zusammenleben lustig und cool zu gestalten und einen Ausgleich dazu zu finden, dass wir gerade nicht feiern gehen können.

Wie lange könnt ihr das noch so durchhalten?

Tanja: Es ist schön in der WG, aber ja, es reicht irgendwann auch. Die Einschränkungen haben wir uns ja nicht freiwillig ausgesucht. Es kostet schon Kraft, positiv gestimmt zu bleiben. Es gibt immer wieder schwierige Momente, in denen ich mir denke: "Oh Gott, wann hört das auf? Wann muss ich mir nicht mehr ständig Gedanken um mein moralisches Handeln machen? Wann ist das Leben endlich wieder unbeschwerter?"

Habt ihr einen Tipp an andere WGs, wie sie sich am besten verhalten sollen?

David: Offen Bedürfnisse kommunizieren.

Emil: Gegenseitiges Vertrauen aufbauen.

Tina: Nicht immer nur Corona thematisieren in der WG. Sich gegenseitig öffnen, damit jeder in der WG Rückhalt findet. Auch nach Streits füreinander da sein.