Schon seit über vier Jahren gibt Lars Eidinger an der Berliner Schaubühne humpelnd, in gebückter und schiefer Haltung, mit verrenkten Armen und Beinen Richard III. Die Darstellung Eidingers sei "die Karikatur eines Menschen mit Körperbehinderung", kommentiert der Theaterkritiker Georg Kasch, und ein prominentes Beispiel für Cripping up. Unter dem Begriff wird eine Besetzungspraxis verstanden, bei der nicht-behinderte Schauspieler*innen Menschen mit Behinderung verkörpern.

Georg Kasch ist Experte zum Thema Cripping up. Schon seit vielen Jahren schreibt er über Künstler*innen mit Behinderung und Fragen der Repräsentation. Wir lassen uns von ihm den Begriff ausführlicher erklären: Cripping up setze sich zusammen aus zwei englischen Wörtern: crip, dem englischen Wort für Krüppel, hier umgedeutet als positiver Kampfbegriff, und dem Wort up für hoch.

"Hoch, weil das ja immer als hohe Kunst der Verwandlung gilt, als nicht-behinderte*r Schauspieler*in eine Behinderung zu spielen", so Kasch. In der Tat brachte seine Darstellung des Königs Richard III. dem Schauspieler großes Lob ein. "Einer dieser unglaublichen Eidinger-Momente", begeisterte sich beispielsweise die Kritikerin Eva Biringer unter der Überschrift Die große Eidinger-Show.

Für Kasch jedoch ist Cripping up ein Problem, wie er auch schon in seinem Essay Cripping up - Was problematisch daran ist, wenn Schauspieler ohne Behinderung Rollen mit Behinderung spielen ausgeführt und begründet hat. Kasch ist der Meinung: "Genauso wie es nicht geht, dass weiße Menschen schwarze Menschen auf der Bühne darstellen, erst recht nicht, wenn sie sich schwarz anmalen, genauso wenig geht es, sich einfach mal in den Rollstuhl zu knallen und über die Bühne zu rollen. Jedenfalls nicht, solange das Ensemble und das Team einer Produktion nicht divers aufgestellt ist."

Mit seiner Kritik, dass es problematisch sei, wenn Schauspieler*innen ohne Behinderung Menschen mit Behinderung verkörpern, ist Kasch nicht alleine. Auch das Projekt Leidmedienkritisiert die Darstellung von Menschen mit Behinderung durch nicht-behinderte Schauspieler*innen als ein "Stehlen von Identitäten". Die Leidmedien-Journalist*innen appellieren an alle nicht-behinderten Schauspieler*innen: "Denkt über Repräsentation, Identität und Chancengleichheit nach, wenn ihr eine Rolle, die eine Behinderung enthält, angeboten bekommt."

Zwei Schauspielerinnen mit Behinderung erzählen von ihren Erfahrungen mit Cripping up

Wir haben die Schauspielerinnen Jana Zöll und Lucy Wilke, die beide im Rollstuhl sitzen, gefragt, ob sie es problematisch finden, wenn nicht-behinderte Kolleg*innen Figuren mit Behinderung spielen und wie es im Theater- und Filmbetrieb um die Gleichberechtigung von Schauspieler*innen mit und ohne Behinderung bestellt ist.

ze.tt: Jana und Lucy, wie geht es euch, wenn ihr im Film oder Theater Cripping up erlebt?

Jana Zöll: Bei mir ist da immer eine gewisse Skepsis da. Ich gucke mir das besonders genau an – ob es glaubwürdig und handwerklich gut gespielt wird. Ob es einen Kontakt mit Betroffenen gab, im Sinne eines Trainings und Erfahrungsaustausches.

Lucy Wilke: Ich achte vor allem darauf, aus welcher Haltung heraus eine Geschichte erzählt wird. Mir geht es eigentlich eher um die Erzählung als um die Frage, ob das jetzt jemand mit Behinderung spielt oder nicht. Es gibt viele Filme, die mich ärgern, aber nicht, weil es jemand ohne Behinderung spielt, sondern weil ich in der Story Ressentiments von nicht-behinderten Menschen wiedergekäut sehe. In vielen Filmen ist es zum Beispiel so, dass der*die Protagonist*in mit Behinderung entweder unbedingt wieder geheilt werden oder unbedingt sterben will. Wenn ich so einen Film sehe, bin ich ziemlich genervt.

Ich leide wesentlich mehr unter Liebeskummer oder anderen Dingen als unter meiner Behinderung. So würde ich das gerne auch in Filmen und Theaterstücken dargestellt sehen.
Lucy Wilke

Was macht für euch die gelungene Darstellung einer Figur mit Behinderung aus?

Zöll: Ich finde es vor allem wichtig, dass in der Erarbeitung des Theaterstücks oder des Films wirklich die Perspektive von Betroffenen miteinbezogen wird. Dass Menschen mit Behinderung gefragt werden. Dass ihre Expertise im Entstehungsprozess des Stückes oder Films eingeholt und dass nicht die plakative Vorstellung vom Leben mit Behinderung wiedergekäut wird, die viele Menschen ohne Behinderung halt im Kopf haben.

Wilke: Für mich persönlich ist es so, dass meine Behinderung überhaupt nicht mein Hauptproblem im Leben ist. Ich leide wesentlich mehr unter Liebeskummer oder anderen Dingen als unter meiner Behinderung. So würde ich das gerne auch in Filmen und Theaterstücken dargestellt sehen. Es wäre toll, mehr Figuren zu sehen, die eben einfach eine Behinderung haben, bei denen sich aber nicht alles nur um die Behinderung dreht. Ich wünsche mir Geschichten, in denen jemand einfach behindert ist und es ist okay so.

Würdet ihr sagen, dass eine gelungene, nicht klischierte Darstellung vom Leben mit Behinderung beziehungsweise einer Figur mit Behinderung eher gelingt, wenn die Rolle auch von einem*r Schauspieler*in mit Behinderung gespielt wird?

Zöll: Das kommt darauf an, wie sehr sich der*die Schauspieler*in als Künstler*in einbringen kann oder wie sehr er*sie Marionette ist. Wenn sich der*die Schauspieler*in mit Behinderung nicht entsprechend einbringen kann, dann kann auch ein klischeehaftes Ergebnis entstehen, obwohl ein*e Schauspieler*in mit Behinderung beteiligt ist. Rein von der Körperlichkeit wird es vermutlich realistischer sein. Aber ich weiß nicht, ob das unbedingt besser ist, wenn die Story an sich schlecht und voller Klischees ist. Weil es dann sogar noch eine Rechtfertigung bekommt, nach dem Motto: Es kann ja gar nicht schlecht sein, weil ja ein*e Künstler*in mit Behinderung dabei war.

Wilke: Für mich kommt es halt wirklich vor allem darauf an, ob es gut umgesetzt ist. Und ich kenne Performances von Schauspieler*innen, die keine Behinderung haben, die eine Behinderung spielen, die ich gut finde.

Nimmt euch eine nicht-behinderte Schauspielerin, die eine Frau im Rollstuhl spielt, eine Rolle weg?

Zöll: Leider ja. So würde ich es formulieren. Es ist halt derzeit so, dass Schauspieler*innen mit Behinderung fast nur die Chance kriegen, Rollen zu spielen, in denen ihre Behinderung in irgendeiner Weise Thema ist. Wie ich es gerne sage:

Cripping down gibt es ja noch nicht. Wenn aber genauso selbstverständlich wie momentan noch

Cripping up auch ein

Cripping down praktiziert würde, dann wäre für mich auch das

Cripping up kein Problem. Dann wäre mir das ziemlich egal.

Wilke: Grundsätzlich finde ich, dass jede*r alles spielen darf, weil man bewegt sich ja sowohl im Film als auch im Theater in einem Phantasieraum. Aber andererseits fände ich es gut, wenn Schauspieler*innen mit Behinderung mehr Rollen bekämen. Aber das müssen für mich jetzt nicht unbedingt Rollen sein, die explizit für eine Person mit Behinderung geschrieben sind. Das könnte von mir aus auch die Anwältin sein, als Beispiel. Eigentlich wünsche ich mir, dass ganz reguläre Rollen mit Schauspieler*innen mit Behinderung besetzt würden. Aber solange Schauspieler*innen mit Behinderung, zumindest im Film, diese Rollen nicht bekommen, ist ja jede Rolle, die für eine Person mit Behinderung geschrieben ist, eine Chance, als Schauspieler*in mit Behinderung überhaupt mal eine Rolle zu kriegen.

Eigentlich möchte ich starke Frauenrollen spielen. Gerne auch mal Rollen, bei denen es um Weiblichkeit, Sinnlichkeit und Erotik geht.
Jana Zöll

Wenn ihr für ein Projekt angefragt werdet, worauf achtet ihr? Welche Rollen nehmt ihr an, welche Rollen lehnt ihr ab?

Zöll: Ich versuche Projekte zu vermeiden, bei denen es nur darum geht, in einer oder zwei Szenen ein krasses Bild mit mir zu erzeugen. Und ich möchte mich eigentlich auch nicht immer nur mit dem Thema Behinderung befassen – künstlerisch –, weil das kenne ich ja schon privat. Aber wenn ich eine gute Rolle angeboten bekomme, bei der ich das Gefühl habe, da wird eine Story erzählt über das Leben mit Behinderung, die unbedingt erzählt werden muss und die gut erzählt ist, dann würde ich das jetzt auch nicht ablehnen. Aber eigentlich möchte ich starke Frauenrollen spielen. Gerne auch mal Rollen, bei denen es um Weiblichkeit, Sinnlichkeit und Erotik geht.

Wilke: Ich gehe da ziemlich nach dem Lustprinzip, ehrlich gesagt. Ansonsten lehne ich Projekte ab, die aus so einer karitativen Haltung heraus kommen und nicht aus einem Selbstbestimmt-leben-Gedanken. Am liebsten wirke ich bei Projekten mit, in denen es egal ist, ob ich eine Behinderung habe oder nicht. Und wenn die Geschichte doch etwas mit dem Thema Behinderung zu tun hat, dann muss sie natürlich auf eine Weise davon erzählen, die mir in meinen Überzeugungen entspricht – das heißt, die Geschichte muss aus einer Haltung heraus erzählt sein, die die Figur nicht als bedauernswert oder defizitär betrachtet.

Wo wünscht ihr euch, dass der Film und das Theater in zehn Jahren stehen, wenn es um die Besetzung von Schauspieler*innen mit Behinderung geht?

Zöll: Ich wünsche mir Gleichberechtigung. Dass jede*r jede Rolle spielen kann, egal ob behindert oder nicht-behindert. Und dass immer, wenn es um das Thema Behinderung oder auch um ein beliebiges anderes Thema geht, gut recherchiert und die Perspektive von Betroffenen einbezogen wird.

Wilke: In der Theaterwelt nehme ich schon etwas sehr Zugewandtes wahr, eine große Bemühung. Im Theater bekomme ich momentan tolle Rollen. Und auch Rollen, die sich jetzt nicht auf die Behinderung konzentrieren. Weil das haben mittlerweile schon viele Theatermacher*innen verstanden, dass es wichtig ist, dass man nicht immer auf die Behinderung reduziert wird. Im Theater finde ich es gerade ziemlich gut, was da passiert. Die Filmwelt ist da hinterher. Da werde ich selten angefragt und wenn ich angefragt werde, dann muss ich selbst sehr viele Impulse einbringen, damit das Ergebnis meinen Überzeugungen entspricht. Vom Film würde ich mir wünschen, dass er dieselbe Offenheit entwickelt, die ich momentan schon in der Theaterwelt spüre.