"Ach Liebling, bitte nicht!", mault mein Ehemensch. Es ist Sonntag, ich liege hirntot auf dem Sofa. Gestern hatte ich Show, üblicherweise bin ich am nächsten Tag lethargisch und soziophob und ich brauche buntes Unterhaltungsfernsehen. Es ist 11:50 Uhr, gerade beginnt der ZDF-Fernsehgarten.

Diese Show fasziniert und strapaziert zugleich. Moderatorin Andrea Kiewel (oder wie Fans sie liebevoll nennen: die Kiwi) fährt glücklich glucksend auf einem Fahrrad den Lerchenberg hinauf. Dort befindet sich das riesige Open-Air-Fernsehstudio des Fernsehgartens, unweit des ZDF-Sendezentrums in Mainz. Warum Kiwi einen Fahrradanhänger mit Hundehütte und verwirrtem Schnauzer hinter sich her zieht? Keine Ahnung. Erfahrungsgemäß wird in den kommenden zwei Stunden wenig Sinn ergeben.

Kiwi fährt an zwei winkenden Kindern vorbei. Lilly und Julian. Sie sitzen in einer Mülltonne. Ein paar Strampler weiter warten Joey Kelly und sein Sohn Luke vor einem VW-Bus, auch sie winken und werden nachher von ihrer Abenteuerfahrt im Bully nach Peking berichten. An Lukes Stelle hätte ich mich schon in Brandenburg selbst angezündet. Der Kelly-Spross hält sich wacker und winkt glücklich. Kiwi verrät, dass sie uns auf eine Urlaubsreise durch Deutschland mitnimmt, es geht um Rad fahren, wandern und campen. Der übliche Draußen-mal-was-machen-Ratgeber-Talk. Ist schon mal kacke.

Kiwis Fahrt endet am großen Pool, dort befindet sich die Hauptbühne. "Hui, nicht hingefallen", freut sie sich. Aber sicherlich hätte sie sogar einen Hüftbruch knallhart weggesteckt. Kiwi ist eine Moderationsmaschine. Im Osten war sie Leistungsschwimmerin, dann unter anderem Grundschullehrerin und fand nach der Wende zum Sat.1-Frühstücksfernsehen. Tatsächlich ist ihre Leistung im Fernsehgarten beachtlich. Jede Woche zwei Stunden Livesendung. Schnelles Wechseln zwischen Interviews, Gästebespaßung, Anmoderationen und albernen Spielchen. Sie ist hochkonzentriert und lächelt dabei. Neulich hat sie sich im Apnoetauchen versucht und 1:40 Minuten unter Wasser die Luft angehalten. Eine Tausendsassarin, die Kiwi.

Corona kriegt Kiwi nicht klein

20 Jahre ist Kiwi schon am Start. Den Fernsehgarten-Rudelbums gibt es seit 1986, zuerst moderiert von Ilona Christen, dann übernahm Ramona Leiß. Aber Kiwi überstrahlt sie alle. Ganz wortwörtlich. Über jede Erschöpfung hinweg.

"Schau mal, die Ader ist schon da!", ruft mein Mann. Ich habe eine stark ausgeprägte Ader-Phobie. Nach einer halben Stunde pumpt sich für gewöhnlich eine majestätische Vene an Kiwis Hals auf, ich nenne sie liebevoll die Moderationsader. Das Gehirn braucht eben viel Sauerstoff während so einer Sendung.

Heute hat Kiwi einen schweren Tag. Verständlich. Sie wandert, wie auch in den vorangegangenen Sendungen, durch leere Zuschauer*innenränge. Corona hat ihr Publikum gefressen. Früher kamen auf dem Lerchenberg bis zu 6.000 Menschen zusammen, von schunkelnde Senior*innen über Familien mit Kindern bis zu verkleideten Junggesell*innenabschieden war alles dabei. Heute sitzen dort Pappaufsteller von Zuschauenden, die ihre Fotos zum ZDF geschickt haben. Wer macht sowas?

Aber: Auch Corona kriegt Kiwi nicht klein. Kiwi unterhält sich gerade mit Papp-Dominik, einem sympathisch aussehendem Kapuzenpulliträger aus Hinterfotzingen. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen will. Wenn die Aufsteller jetzt noch schunkeln könnten, würde ich ausrasten.

Der Fernsehgarten ist ein Relikt – und überlebt trotz aller Unkereien

Marianne Rosenberg präsentiert ihre neue Single Im Namen der Liebe, den Text hat ihr Sohn Max geschrieben. Willkommen in der Vollplayback-Hölle. Marianne singt auf einer Poolbrücke, wilde Kamerafahrten bezirzen mich. Im Hintergrund steht ein Musikerdarsteller. Sein Keyboard hat keine Kabel, es scheint wie von Zauberhand trotzdem zu funktionieren.

Die Musiknummern sind wichtiger Bestandteil der Sendung und furchtbar peinlich. Trotzdem sind hier schon alle aufgetreten: Andrea Berg, Pietro Lombardi, Felix Jaehn, Glasperlenspiel, die Lochis sowie die gesamte Kelly Family in unterschiedlichen Kombinationen. Während der Promozeit eines neuen Albums kommt man auch heute noch nicht am Fernsehgarten vorbei. Jeden Sonntag schalten zwischen einer und zwei Millionen Menschen ein, auch Hunderttausende junge Menschen. Nach einem Auftritt bei Kiwi klingelt die Kasse.

Ja, das ganze ist Trash. Aber auch professionelles, gut gemachtes Unterhaltungsfernsehen. Ich habe meine Kindheit in den 1980ern vor dem Fernseher verbracht. Die großen Shows waren meine Welt. Verstehen sie Spaß, Wetten, dass …?, Die Rudi-Carell-Show, Flitterabend … ich liebte alles, was aus einer künstlichen Studiowelt ins Wohnzimmer flimmerte. Der Fernsehgarten ist ein solches Showrelikt. Und irgendwie überlebt das Format von Jahr zu Jahr, entgegen aller Unkereien. Davor muss ich den Hut ziehen.

Jede*r sollte einmal Fernsehgarten gucken

Die Kiwi ist übrigens gerade in der Kochecke angekommen, vier Sterneköche treten gegeneinander an, es geht um Nachtische. Ich muss kurz aufs Klo. Als ich wiederkomme, sitzt eine burschikose Frau in einem Lavendelfeld, die Kiwi lauscht begeistert. Die Dame ist Langstreckenwanderin, unter 1.000 Kilometern geht nichts. Das Gesamtgewicht ihres Rucksacks betrage soundsoviel Kilo, alles muss leicht sein. Kiwi staunt! "Dann haben Sie aber nur einen Schlüppi dabei, oder?" – "Gar keinen!" – Kurze Schnappatmungspause seitens der Moderation.

Meinem Ehemenschen reicht es jetzt. "Schatz, du weißt, ich liebe dich sehr. Aber bitte schalt um oder erschieß mich." Er hat recht. Ich kann mir die Sendung ja noch während einer Künstlerinnendepression in der Mediathek angucken. Schließlich will ich noch den zweiten Auftritt von Marianne Rosenberg sehen.

Ich finde: Jede*r sollte einmal im Leben eine ganze Sendung Fernsehgarten gesehen haben. Der Fernsehgarten ist deutsches Kulturgut. Trutschig und verschroben. Der Vorgarten der Republik. Die Häkelgardine, hinter der die garstige Nachbarin hervorlugt, um den gutaussehenden Schwiegersohn von nebenan zu beobachten.

Ob sich die Kiwi danach wohl hemmungslos betrinkt? Verständlich wäre es. Trotzdem danke, Kiwi.