Alles aus Liebe tun, alles für die Liebe tun – wenn man einen Menschen aufrichtig ins Herz geschlossen hat, dann geht man gefälligst gemeinsam durch dick und dünn, gute und schlechte Zeiten. So das landläufige Ideal. Und wäre das immer so klar, so einfach und vor allem beidseitig erfüllt – die Welt wäre vermutlich ein besserer Ort.

Leider verhält es sich jedoch in der Realität zumeist deutlich unausgeglichener und wesentlich komplizierter. Nicht selten liebt oder gibt eine*r von beiden mehr als der*die andere. Und genau diese Menschen, die Mehrgeber*innen und Mehrlieber*innen, haben häufig Probleme zu erkennen, wann zu viel wirklich, wirklich zu viel ist – und sie jemand bewusst oder unbewusst ausnutzt. Denn manchmal ist es tatsächlich gar nicht so leicht, das aufzudröseln.

Doch es gibt durchaus ein paar Ansätze, die das mit der Erkenntnis etwas erleichtern und dir zeigen können, woran du merkst, dass dich jemand ausnutzt und dir ganz und gar nicht gut tut.

Warum nutzen Menschen andere aus?

Vorab: Die wenigsten Menschen, die andere manipulieren und ausnutzen, schmieden komplexe, machiavellimäßige Pläne mit dem einzigen Ziel, dir das Leben zur Hölle zu machen. In den meisten Fällen geschieht das mit dem Ausnutzen vorwiegend unbewusst, basierend auf alten, verinnerlichten Mustern und toxischen Beziehungsdynamiken.

"Oft stecken Unsicherheit oder Bedürftigkeit dahinter", erklärt die psychologische Beraterin Elena Sohn, die sich vor allem mit Liebeskummer beschäftigt. "Grundsätzlich kann man sagen, dass jemand, der oder die andere ausnutzen muss, primär eine Problematik in sich selbst trägt."

Diese innere Problematik äußert sich in verschiedenen Persönlichkeitszügen, die dazu führen können, dass ein Mensch andere ausnutzt. Dazu gehören laut Elena Sohn zum Beispiel übersteigerter Egoismus, ein Mangel an Empathie oder auch Narzissmus.

Bedauerlicherweise ist innere Zerrüttung nicht unbedingt auf den ersten Blick zu erkennen. "Je nachdem, an was für eine Art von Ausnutzer*in man gerät, kann es sein, dass das Ganze sehr charmant verpackt wird", erklärt Elena Sohn. "Oder es wird so dominant und überheblich vorgebracht, dass man an der eigenen Wahrnehmung zweifelt."

Das gilt im Übrigen beileibe nicht nur für Liebesbeziehungen, sondern auch für Freund*innenschaften und Familienmitglieder. Aber in der Liebe kommt eben noch der hormonelle Weichzeichner dazu. "Wenn es um das Ausnutzen in einer Liebesbeziehung geht, spielt außerdem Verliebtheit oft eine Rolle", so Elena Sohn, "sie lässt eine*n die Augen verschließen."

Es ist also wahrhaftig keine Schande und ziemlich normal, wenn du das mit dem Ausnutzen nicht so ohne Weiteres bemerkst.

Woran du erkennst, ob dich jemand ausnutzt

Ein sehr wichtiges Indiz dafür, dass dich jemand ausnutzt, ist dein Zustand nach einem Treffen oder Gespräch. Wenn du dich danach erholen und zu Kräften kommen musst, wenn du dich erschöpft, traurig oder aufgebracht fühlst – dann stimmt was nicht. "Häufig merken Menschen, die lange und oft ausgenutzt werden auch, dass sie gestresst und müde sind", so Elena Sohn. "Das kann sich natürlich auch körperlich zeigen."

Auch ein Zeichen: Wenn du das Bedürfnis hast, nach einer Begegnung mit dieser Person mit anderen darüber zu sprechen und deinen Gefühlen Luft zu machen – oder wenn deine Gedanken und Gespräche dauernd um die Probleme des*der anderen kreisen. Gut erkennbar am Augenrollen deine*r Freund*innen, die sich das zum tausendsten Mal anhören.

Halbwegs offensichtlich ist das mit dem Ausnutzen bei Menschen, die sich tage- oder wochenlang zurückziehen und sich immer dann melden, wenn sie bedürftig sind, wenn sie Zuwendung, Trost, Anerkennung brauchen. Bis zum nächsten Mal. Das hat wenig mit Freiraum zu tun, sondern mit emotionaler Selbstbedienung und Ausbeutung – insbesondere dann, wenn du dir eigentlich kontinuierlichen Kontakt wünschst.

"Ganz faktisch kann man es zum Beispiel daran erkennen, dass das Gegenüber sehr viele Ressourcen beansprucht, ohne etwas zurückzugeben: Zeit, Geld, Aufmerksamkeit oder ähnliches", sagt auch Elena Sohn.

Grob gesagt lässt sich Ausnutzen also daran festmachen, dass deine Bedürfnisse in dieser Beziehung kaum vorkommen oder klein geredet werden. Du brauchst Zuverlässigkeit, Beständigkeit? Du wünschst dir, dass jemand dich endlich mal besuchen kommt und nicht immer nur umgekehrt? Das ist normal, berechtigt und hat Berücksichtigung verdient.

"Wer in einer zwischenmenschlichen Beziehung dazu aufgefordert wird – direkt oder unterschwellig – immer mehr zu geben, als zurückkommt und wenn dieser Umstand nicht angesprochen wird beziehungsweise keine Wertschätzung dafür erfolgt, ist das ein Zeichen dafür, dass jemand ausgenutzt wird", fasst Elena Sohn zusammen.

Auch, wenn du selbst das vielleicht nicht sofort siehst oder es in deiner Kindheit so gelernt hast: All das hat nichts mit Liebe und Hingabe zu tun, das ist toxisch.

Das kannst du tun

Der schwerste und entscheidende Schritt: Augen auf. Es ist erstaunlich, wie viele realitätsverbiegende, selbstbelügende Erklärungen, Rechtfertigungen und Beschwichtigungen Menschen erfinden, wenn sie jemanden lieben. Von "Es ist nur eine Phase" über "Er*sie kann es halt nicht so zeigen" oder "Er*sie braucht halt viel Freiraum" bis "Ich hätte ja auch selbst …" ist alles denkbar. Aber nichts davon ist hilfreich.

Nur, wenn du die hinter eurer Dynamik liegenden Muster – bei dir selbst und dem*der anderen – erkennst und zu verstehen versuchst, kannst du die sich wiederholende Schleife beenden und aus dieser Konstellation aussteigen. Das erfordert Mut und Zeit und manchmal auch professionelle Unterstützung, beispielsweise durch eine therapeutische Begleitung.

Laut Elena Sohn geht es unter anderem darum, dass du lernst, besser Grenzen zu setzen, für dich selbst und deine Bedürfnisse einzustehen – und zu begreifen, was du so dringend von deinem Gegenüber brauchst: "Oft merkt man dann, dass es um Themen wie Anerkennung, Nähe, Liebe oder Selbstwert geht."

Denn auch, wenn du das selbst vielleicht (noch) nicht so siehst – du hast definitiv was Besseres verdient. Nein, stimmt nicht: Du hast das Beste verdient.