Um von meinem Exfreund loszukommen, habe ich sage und schreibe zwei Jahre gebraucht. Ich war es zwar, die Schluss gemacht hatte, doch dann kamen mir diese fiesen Zweifel. Plötzlich schien es mir, als hätte ich eine tolle Zeit mit ihm gehabt. Ich war mir auf einmal gar nicht mehr sicher, warum ich Schluss gemacht hatte. Also kam ich wieder mit dem Exfreund zusammen, wir stritten uns, hatten eine furchtbare Zeit und machten wieder Schluss. Das ist eine vertrackte Art von Liebeskummer: Wir wollen etwas zurück, was uns eigentlich gar nicht gut getan hat.

Wir sind gut darin, uns ausgesprochen fragwürdige Dinge aus der Vergangenheit schönzureden, die eigentlich viel hässlicher, unangenehmer und anstrengender waren. Die Schulzeit? Ach, eigentlich war es doch ganz nett, den ganzen Tag in vermufften Räumen zu sitzen und wenig zu tun zu haben. Der Urlaub, bei 43 Grad im Schatten in dem versifften Hotel in Griechenland? Och, wir hatten es gut, da sollte man mal wieder hin. Das Praktikum in der großen Firma? Hey, ich hatte einen eigenen Schreibtisch und habe mich wichtig gefühlt. Dass ich den ganzen Tag nur Akten sortiert und mich furchtbar gelangweilt habe, habe ich schon wieder vergessen. Warum haben wir so oft eine rosarote Brille auf, wenn wir in die Vergangenheit gucken?

Wir merken es nicht, wenn wir uns falsch erinnern

Der Psychologe Rüdiger Pohl hat lange über das Gedächtnis und seine Fehler geforscht und ist Autor des Buches Das autobiografische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Jetzt ist er seit einem Jahr in Rente und berät mich am Telefon in Sachen Exfreund: Wenn wir eine Erinnerung abrufen, über sie nachdenken oder von ihr erzählen, wird diese Erinnerung verändert. "Unser Gehirn ist ein lebendiges Organ, das seine Vernetzung in jedem Augenblick ändert und damit auch die Organisation der Inhalte und sogar die Inhalte selber", sagt Pohl. "Während wir telefonieren, bilden sich in deinem Gehirn Abermillionen neuer Synapsen."

Wenn man das Gehirn mit einer Festplatte vergleicht, bedeutet das, dass die Festplatte neu beschrieben wird. Doch nicht nur das, es kommt noch drastischer. Alte Erinnerungen werden dabei überschrieben. "Das Original-File ist dann weg", sagt Pohl. Wir wissen gar nicht mehr, wie die Erinnerung ursprünglich einmal ausgesehen hat. Wir kennen nur noch die modifizierte, neue Version.

Das geht sogar so weit, dass man sich bei Kriminalfällen oder Verkehrsunfällen nicht sicher sein kann, ob das, was Zeug*innen erzählen, stimmt. Die Psychologin Julia Shaw forscht in Großbritannien zum Thema Erinnerungsverfälschungen. In einem Experiment hat sie Proband*innen dazu gebracht, zu glauben, sie hätten eine Straftat begangen. Und das einfach nur, indem sie ihnen von der fiktiven Straftat erzählte, sie bat, die Augen zu schließen und sich die Szenen vorzustellen, und die ausgedachte Geschichte in einem Video nachspielte. Am Ende wussten die armen Leute nicht mehr, was Fantasie und was eine wirkliche Erinnerung war. Ziemlich gruselig: Welche meiner Erinnerungen mit meinem Exfreund sind überhaupt echt, und welche habe ich mir nach Jahren hinzugedichtet, in denen ich haufenweise Liebesfilme geguckt und mit Freund*innen über meine Vergangenheit geredet habe?

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Die Erinnerungen sind essenziell für unser Selbstkonzept

Der Wissenschaftler Pohl findet den Vergleich mit der rosaroten Brille gut. "Wir erinnern uns oft falsch, und oft geht‘s in eine positive Richtung", sagt er. Wer hingegen an einer Depression leide, sehe eher das Negative und halte daran fest. "Man könnte sogar sagen: Depressive Menschen haben ein realistischeres Bild von der Vergangenheit." Pohl hält unsere rosarote Brille für einen wichtigen Schutzmechanismus für unsere Psyche. "Vielleicht schützt uns diese Verzerrung ins Positive davor, an der Realität zu verzweifeln."

Unsere Erinnerung ist nämlich wesentlich, wenn es um unser Selbstkonzept geht. "Wer nach einem schweren Unfall sein Gedächtnis verloren hat, muss von vorne anfangen und seine Identität neu aufbauen", sagt Pohl. Ungefähr 20 Jahre lang dauert es, bis ein Mensch sich so ein stabiles Selbst aufgebaut hat. Dieses Selbstkonzept fußt auf Erinnerungen an Ereignisse, die uns bewegt oder überrascht haben, und die uns besonders wichtig sind. Manchmal erinnern wir uns an scheinbar unwichtige Details wie die Farbe unseres ersten Schulranzens. Aber meistens sortiert unser Gedächtnis rigoros aus, abstrahiert und verallgemeinert.

Der Psychologe Pohl erzählt mir von dem russischen Gedächtniskünstler Solomon Schereschewski, der im 20. Jahrhundert gelebt hat und sich komplizierte Formeln merken und sogar an ganze Gespräche Wort für Wort erinnern konnte. Abstrakt zu denken hingegen fiel dem Gedächtniskünstler schwer. "Das würde ich keinem wünschen. Wir fluchen, wenn wir wieder vergessen haben, wo die Schlüssel liegen", sagt Pohl. "Aber eigentlich sollten wir dankbar über unsere Gabe, zu abstrahieren, sein." Sonst würden uns die vielen Details unserer Erinnerungen förmlich erschlagen. Stattdessen ist unser Gedächtnis wählerisch. Und wir merken das nicht einmal, weil wir unsere Erinnerungen fortwährend so auswählen und anpassen, dass sie zu unserem gegenwärtigen Selbstbild passen. "Und das ist auch gut so", sagt Pohl, "das ist eine gesunde Form der Verfälschung."

Wie kann ich verhindern, dass mein Gedächtnis mich betrügt?

Was kann ich aber tun, wenn ich endlich in meinen Kopf bekommen will, dass die Beziehung mit meinem Exfreund am Ende nur noch Kraut und Rüben und nicht eitel Sonnenschein war? Der Psychologe Pohl rät zum Tagebuchschreiben. "Wenn wir uns später alte Tagebucheinträge ansehen, finden wir oft Hinweise dafür, dass sich unsere Erinnerungen im Laufe der Zeit verändert haben." Fotos und Filme seien auch ein Mittel, um die eigenen Erinnerungen mit der Realität abzugleichen. "Allerdings hebt man oft nur die Fotos auf, auf denen man glücklich aussieht." Auch Social Media-Profile und -Fotos sind nicht gerade hilfreich, wenn man realistische Erinnerungen möchte.

Gut sei auch, Erinnerungen aktiv aufzuarbeiten. "Wenn du nach zwei Jahren mit deinem neuen Freund dasselbe Problem wieder hast, hast du vielleicht aus der letzten Trennung nicht richtig gelernt", rät mir Pohl. Das tut aber weh, da geht es ans Eingemachte. Deshalb könne man als Faustregel sagen: Wenn ein Ereignis unser jetziges Leben nicht beeinflusst, müssen wir alte Wunden nicht wieder aufreißen. Die rosarote Brille können wir dann getrost auf der Nase lassen.

Ich habe eine andere Lösung gefunden. Wenn ich mich entscheide, eine Beziehung zu beenden, schreibe ich mir jetzt immer auf, warum ich das gemacht habe. Als Gedächtnisstütze.