Erfüllende Liebe ist keine Performance-Frage. Kein Assessment-Center, kein Erwerben und Zurschaustellen von Eigenschaften und Fähigkeiten. Kein Ziel, das sich mit purer Willenskraft und genug Durchhaltevermögen erreichen lässt.

Dennoch gibt es viele Menschen, die mit großer Anstrengung und erstaunlichem Aufwand einen anderen Menschen unbedingt von Liebe überzeugen wollen. Die sich selbst optimieren und bis zur seelischen Unkenntlichkeit verbiegen, um ans vermeintliche Ziel zu gelangen: Dass der*die andere sie endlich zurücklieben möge.

Die notwendige Anpassungsleistung gleicht quasi einer unendlichen Runde auf einem Einrad [hier gedanklich Zirkusmusik einfügen] und gleichzeitigem Jonglieren: Schau, wie gut ich bin und was ich alles kann! Guck doch!

In unserer Leistungsgesellschaft lernen wir schon sehr früh im Leben, etwas leisten zu müssen, um angenommen zu werden.
Nina Deißler, Beziehungscoachin

Dazu gesellen sich nicht selten Gedanken wie zum Beispiel:

"Wenn ich nur ein bisschen mehr …" oder "Wenn ich nur ein bisschen weniger …"

"Nein, es macht mir gar nichts aus, dass du dich immer wieder zurückziehst – ich bin cool und unabhängig. Du musst ja nicht wissen, dass ich alle sieben Minuten auf mein Handy gucke."

"Klar weiß ich, dass du nicht treu sein kannst – egal, ich bin von Natur aus großzügig. Oder ich kann einfach wegschauen, wenn du mich betrügst."

"Du trauerst noch deiner*m Ex nach? Das tut mir nicht weh, denn ich habe für alles Verständnis. Auch, wenn ich mich jede zweite Nacht in den Schlaf weine."

"Ich liebe deine Eltern. Es perlt komplett an mir ab, wie sie sticheln und du schweigst."

"Wir streiten uns nie. Ich mag das, was du auch magst. Ich bin super. Ich bin alles, was du willst. Warum liebst du mich denn nicht?"

Irgendwann sitzt du komplett erschöpft und weinend allein auf dem Kantstein, das Einrad hat eine Acht. Hm. Und nun?

Wieso Menschen andere von Liebe überzeugen wollen

Dass es in den meisten Fällen nicht funktioniert, einen anderen Menschen von Liebe überzeugen zu wollen und es auf Dauer unglücklich und sogar krank machen kann, sollte eigentlich klar sein. Ist es jedoch oft nicht.

Woran das unter anderem liegt, erklärt die Beziehungscoachin und Flirt-Expertin Nina Deißler so: "In unserer Leistungsgesellschaft lernen wir schon sehr früh im Leben, etwas leisten zu müssen, um angenommen zu werden." Ohne Fleiß kein Preis – und das heißt im Umkehrschluss: Wenn du dir nur genug Mühe gibst, dann muss es doch irgendwann klappen. Das nennt sich dann häufig "um jemanden kämpfen".

Doch gesellschaftlicher Performance-Druck ist nur ein Teil des Problems.

Was nützt es, jemand anderen für sich zu gewinnen, wenn man danach in der Beziehung immer eine Rolle spielen muss?
Nina Deißler, Beziehungscoachin

Wer das tiefere Prinzip dahinter verstehen will, sollte einen schonungslosen Blick in die eigene Vergangenheit werfen. "Häufig sind das Muster aus der Kindheit", sagt Nina Deißler. "Wer sich als Kind die Aufmerksamkeit und Zuwendung eines Elternteils oder sogar beider erkämpfen musste, hat leider später die Tendenz, sich besonders in Menschen zu verlieben, bei denen er oder sie genau das auch tun muss."

Das Problem beginnt also bei der Partner*innenwahl. Du suchst dir schätzungsweise unbewusst überhaupt nur Menschen aus, die nicht voll verfügbar sind und dir dadurch die Möglichkeit geben, aufs Einrad zu steigen und die Jonglierbälle in die Hand zu nehmen. Weil du es so und nicht anders von früher kennst. Die anderen sind nicht interessant.

Wohin das führen kann

Doch wer sich auf Dauer verbiegt und anpasst, erreicht damit laut Expertin eher das Gegenteil. "Das ist sehr häufig kontraproduktiv", sagt Nina Deißler. Liebe brauche, besonders zu Beginn, einen Hauch von Begehren, und zwar beidseitig. "Wenn man sich jedoch beständig bemüht oder sogar aufdrängt, macht man sich so verfügbar, dass es für den oder die anderen eben kein Reiz ist", so die Flirt-Expertin.

Und selbst in den seltenen Fällen, in denen es tatsächlich gelingen sollte, jemanden von Liebe zu überzeugen und zum Beispiel eine feste Beziehung mit der*m anderen einzugehen, hört das mit dem Einrad fahren, das mit der Anstrengung ja niemals auf.

"Wenn man versucht, alles dem Partner oder der Partnerin recht zu machen, damit er oder sie liebt, ist man nicht authentisch und nicht man selbst", sagt Nina Deißler. "Was nützt es, jemand anderen für sich zu gewinnen, wenn man danach in der Beziehung immer eine Rolle spielen muss?"

Je mehr man mit sich selbst im Reinen und zufrieden ist, das auch ausstrahlt, desto mehr zieht man Menschen an, die genau dazu passen.
Nina Deißler, Beziehungscoachin

Jahre oder sogar jahrzehntelang so zu tun, als stündest du über den Dingen, als wärst du okay mit Umständen, Eigenschaften, Handlungen, mit denen du eigentlich nicht okay bist, als wärst du ein Stück weit ein anderer Mensch – das hat Folgen. Wenn die eigenen Bedürfnisse aus Liebessehnsucht oder dem Wunsch nach Harmonie ignoriert und negiert werden, kommt es langfristig zu Frust und Schmerz.

"Viele Menschen kennen es gar nicht anders und merken vielleicht erst spät im Leben – zum Beispiel durch eine Depression – dass sie sich ihr Leben lang verbogen und verleugnet haben", sagt auch Nina Deißler.

Zwar sind Gefühle nur schwer zu durchschauen und Muster nicht leicht zu durchbrechen, aber es geht durchaus.

Verantwortung übernehmen, Grenzen setzen

Der erste Schritt ist, wie erwähnt, die Spurensuche. Warum genau verguckst du dich in Menschen, die dich nicht so annehmen, wie du bist? Dabei können dir Coach*innen oder Therapeut*innen helfen.

Im nächsten Schritt ist es wichtig, zu lernen, dich selbst so anzunehmen wie du bist. Was brauchst du wirklich in der Liebe, was tut dir gut und was nicht? Wie willst du behandelt werden, wie definitiv nicht? Was sind deine ureigenen Bedürfnisse und wie kannst du selbst die Verantwortung für ihre Erfüllung übernehmen?

Dazu gehört auch, sich eben nicht jemanden zu suchen, der*die sie per se nicht erfüllen will oder kann. Das ist oft gar nicht so einfach und dauert seine Zeit. Aber es lohnt sich.

"Eine Beziehung sollte immer auf Basis gegenseitiger Angebote eingegangen werden", sagt auch Beziehungscoachin Deißler. "Das heißt: Je mehr man mit sich selbst im Reinen und zufrieden ist, das auch ausstrahlt, je mehr man seine Werte kennt und lebt – desto mehr zieht man Menschen an, die genau dazu passen."

Ein Mensch sollte einen anderen Menschen in einer Beziehung nicht komplettieren, sondern allenfalls ergänzen. "Man könnte auch poetisch sagen: Wenn einem zum Glück nichts fehlt, aber man das Glück, das man hat, mit jemandem teilen möchte – dann ist das ein ziemlich guter Ansatz", meint die Expertin.

Doch gerade Frauen fällt das laut Nina Deißler oft schwer. "Weil uns die Gesellschaft immer noch suggeriert, dass wir nur gut genug sind, wenn wir es schaffen, einen Mann zu ergattern." Und das ist ja nun offensichtlicher Unsinn. Du kannst niemanden von Liebe überzeugen. Völlig egal, was du alles (nicht) tust. Also, wirf das Einrad in die Ecke und lass es einfach bleiben.