"Boah, warum schmeckt die Tomate auf meinem Brötchen nach Fisch", fragte meine Chefin kürzlich im Büro. Ich wurde hellhörig und blickte auf: Dasselbe dachte ich mir auch schon ein- oder zweimal. Bis dato dachte ich aber auch, ich würde mir das nur einbilden.

Diese leicht fischige Note, die wir glaubten wahrzunehmen, wo sollte die denn bitte herkommen? Wie sich herausstellte, sind meine Chefin und ich nicht allein mit dieser Frage. Ich entschied, dem Phänomen nachzugehen.

Ja, bin ich denn bescheuert?

Ich stoße im Netz auf unzählige Forenbeiträge zum Thema, englischsprachige und deutsche, den letzten vor zwei Jahren. Eine Frau schreibt etwa, dass ihr aufgefallen sei, wie "Cherrytomaten im Winter des Öfteren nach Fisch" schmeckten. Eine Userin pflichtet ihr bei, das sei auch der Grund, wieso sie im Winter keine Tomaten mehr kaufe.

Ein weiterer User schreibt, dass er nur bei Tomaten aus Holland einen starken Fischgeschmack wahrnehme, und zwar egal, wo er sie kaufe. Wie in Foren üblich, diskutieren die Lesenden eifrig unter den Beiträgen – aber handfeste Erklärungen? Fehlanzeige.

Einer der Erklärungsversuche erscheint mir zunächst plausibel genug, ihm nachzugehen. Ein User erklärt sich das Phänomen so: "Die Tomaten werden im Treibhaus nach einer neuen Methode mit Fischwasser gedüngt. Diese Tomaten beziehen also ihre Wachstumsstoffe nicht aus der Erde, sondern werden künstlich über Bewässerungsmechanismen mit Wasser versorgt, in dem Fische geschwommen sind."

Tatsächlich gibt es diese beschriebene Art der Tomatenaufzucht seit einigen Jahren. Der Fachbegriff dafür lautet Aquaponik. Sie wird in Landwirtschaftskreisen für ihre Nachhaltigkeit gelobt. In der Regel werden dafür Barsche aufgezüchtet, zeitgleich mit Tomaten oder anderen Gemüsesorten. Das Fischwasser ist voll mit Nährstoffen, es wird gereinigt und zum Gemüse geleitet. Die Fische profitieren von der Reinigung des Wassers, die Pflanzen von den Nährstoffen der Fische. Für den menschlichen Verzehr werden dabei sowohl Fische als auch Gemüse produziert. Win-Win also. Aber kann das gleichzeitig die Erklärung für den Fischgeschmack der Tomaten sein?

Ich befrage Jörg Hütter vom Bio-Anbauverband Demeter, Partner der Lebensmittelhandelskette Bio Company. Er ist Referent für Qualitätsentwicklung in der Landwirtschaft und beschäftigt sich eingängig mit dem Aquaponik-Verfahren. Er sagt, er selbst habe zwar von diesem Phänomen gehört – doch obwohl die Vermutung nahe liege, dass der Fischgeschmack in der Tomate von dieser Art der Aufzucht stamme, sei nichts dergleichen nachgewiesen. Die ECF-Farm in Berlin, die im großen Stil Aquaponik betreibt, bestätigt mir das. Kund*innen hätten hier nie von einer fischigen Note berichtet. Zudem sagt man mir dort, dass kaum Tomaten aus regionaler, aquaponischer Aufzucht im Supermarkt landen würden. Obwohl hier Tomaten mit Fischwasser aufwachsen, schmecken sie nicht nach Fisch. Die Spur verläuft im Nichts.

Ich selbst habe Tomaten nie direkt von regionalen Züchter*innen bezogen, sondern ausschließlich aus dem Supermarkt. Ich ging los und kaufte einen Strauch, schnüffelte und probierte an jeder einzelnen Tomate, nur um festzustellen: keine Fischnote. Spätestens jetzt fragte ich mich, ob ich denn bescheuert bin. Aber mich ließ die Frage nicht mehr los – schließlich gibt es doch offensichtlich Menschen, die diesen Geschmack ebenfalls wahrnehmen oder zumindest schon einmal wahrgenommen haben.

Trügerischer Geschmackssinn oder falsche Lagerung?

Ich kontaktiere die Neurowissenschaftlerin Kathrin Ohla. Sie forscht am Forschungszentrum Jülich an den sogenannten psychophysiologischen Mechanismen der NahrungswahrnehmungIch frage sie, ob es möglich ist, dass man sich einen Geschmack einbildet. Ohla, selbst Tomatenliebhaberin, ist überrascht von meiner Anfrage – ihr ist noch nie eine Fischnote aufgefallen. Doch sie bestätigt mir zumindest, dass es aus psychologischer Sicht sehr gut möglich ist, über einen Geschmack zu halluzinieren. "Es muss nur ein Mensch am Tisch erwähnen, dann ist wahrscheinlich, dass mehrere es wahrnehmen", erklärt sie. Das sei eine gängige emotionale Reaktion. Gerade Fischgeruch verbänden einige Menschen mit negativen Erinnerungen.

Es scheint also prinzipiell möglich, dass sich die Mär von der fischigen Tomate durch einen Schneeballeffekt weitergetragen hat. Was mich doch wieder stutzig macht: Das halbe Internet ist voll mit den Anfragen, länderübergreifend. Und all die Menschen sollen fantasieren?

Ich stolpere über einen Artikel über einen Tomatenexperten aus der Schweiz (PDF), der 800 Tomatensorten kennt und jährlich Dutzende selbst anpflanzt. Wenn es jemand wissen muss, dann er.

"Eine spannende Frage. Aber da muss ich leider passen", sagt mir Andres Sprecher am Telefon. Ihm ist neu, dass Tomaten nach Fisch schmecken sollen – allerdings kauft er in der Regel keine Tomaten, sondern züchtet sie selbst. Er hat nur eine Theorie: Es sei derzeit in Mode, dass Fisch und Tomaten beisammen transportiert oder gelagert würden.

Mit dieser Vermutung konfrontiere ich das Max-Rubner-Institut. Dort klingelt etwas bei Tomaten und Fisch. Ich werde an Bernhard Tauscher verwiesen, den ehemaligen Leiter des jetzigen Bundesinstituts. Der Chemiker und Professor an der Uni Heidelberg gründete die Arbeitsgemeinschaft für Geschmacksforschung, gerade ist er in Guatemala. Er bestätigt mir per Mail: "Das Phänomen tritt bei falscher Lagerung auf." Es sei zudem auch schon bei Zucchini und grünem Spargel vorgekommen. Es handele sich wahrscheinlich um einen enzymatischen Effekt, der dann entsteht, wenn sich die Atmosphäre beim Lagern ändert. Die Enzyme, die der Tomate mit ihren Geschmack verleihen, können sich verändern, wenn es zu kalt, zu warm, zu stickig, zu feucht und so weiter ist.

Wenn also eine Tomate – oder eine andere Gemüsesorte – im Salat oder auf dem Brötchen unerwartet nach Fisch schmecken sollte, dann hat das nichts mit der Aufzuchtmethode oder dem Dünger zu tun. Ebensowenig hat die Tomate zu faulen begonnen. Es handelt sich um einen biochemischen Prozess, der deshalb einsetzte, weil die Tomate unter falschen Bedingungen lagerte.