Wer sagt eigentlich, dass wir derzeit in der besten aller möglichen Welten leben? Wer sagt, dass das System, in dem wir leben, das für den Menschen beste System ist? Und vor allem: Warum haben wir so wenige Visionen und Utopien von einer besseren Welt?

"Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Es ist durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre", sagte Max Weber bei einem Vortrag 1919.

Keine Generation der jüngeren Geschichte glaubte so sehr an den zweiten Satz dieses Zitats wie die Studierenden 1968. Sie waren der Ansicht, dass die bestehende Welt nicht die beste aller Welten ist, dass der Kapitalismus nicht das beste aller möglichen Systeme darstellt. Sie glaubten daran, dass der Mensch als rationales Wesen dazu in der Lage ist, selbst über sein Schicksal zu bestimmen – und deshalb auch alles anders machen kann als bisher. Aus diesem Grund sprachen sie auch nie davon, für eine Utopie zu kämpfen. Denn das hätte ja bedeutet, dass sich ihre Visionen nicht im Rahmen des Möglichen befänden.

Die Studierenden der 68er Jahre waren stark geprägt von der Auseinandersetzung mit visionären Denker*innen. An jeder größeren Universität fanden selbstorganisierte Karl-Marx-Lesekreise statt, das Taschenbuch war wie das heute obligatorische Smartphone der Studierenden. Doch die damals verschlungenen Theorien sind keinesfalls veraltet und irrelevant geworden; sie helfen auch heute noch, unsere Gesellschaft zu verstehen – und radikal infrage zu stellen.

Diese sechs Texte haben das Denken der Studierenden 1968 geprägt und sind auch heute noch lesenswert:

Das Kapital von Karl Marx

Zugegeben, Das Kapital ist das Gegenteil von leichter Kost. Trotzdem kommt man an diesem Monumentalwerk zur Kritik der politischen Ökonomie kaum vorbei, wenn man sich mit der 68er-Generation auseinandersetzt.

In seinem im 19. Jahrhundert verfassten Werk analysiert und kritisiert Marx die kapitalistische Produktionsweise. Das Buch enthält sowohl abstrakte Passagen über die Funktionsweise des Kapitalismus, als auch anschauliche Beobachtungen, beispielsweise über die Ausbeutung englischer Abeiter*innen im 19. Jahrhundert. Eine der wichtigsten Lehren, die Marx zieht: Der Kapitalismus ist keine Naturgegebenheit. Er ist menschengemacht und damit auch überwindbar.

Und für Marx war klar, dass der Kapitalismus irgendwann überwunden werden müsse. Grund dafür ist die Ungleichheit, das Auseinanderdriften von Arbeitenden und Kapitalbesitzenden, das laut Marx irgendwann in der Revolution des Proletariats münden müsse. Gut 130 Jahre nach Marx' Tod war die Revolution immer noch nicht da. Planwirtschaften wie die Sowjetunion oder die DDR sind untergegangen.

Dennoch sind Marx' Analysen und Beobachtungen immer noch relevant: Nur weil es beispielsweise das von Marx beschriebene Elend der Arbeitenden in England nicht mehr gibt, so heißt es nicht, dass dieses Elend von dieser Welt verschwunden ist. Es ist einfach auf andere Kontinente ausgewandert. Auch die Ungleichheit ist nicht weniger geworden. Im Gegenteil: Der Ökonom Thomas Piketty zeigte in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert, dass sich die Ungleichheit im 21. Jahrhundert auf einem ähnlichen Niveau befindet wie vor dem ersten Weltkrieg.

Für alle, die einen leichteren Einstieg in das marxsche Werk suchen, sei seine polarisierende Schrift Das Kommunistische Manifest empfohlen (hier kann man sie gratis online lesen). Zum Kapital gibt es unzählige Einführungen und Begleitbücher, die bei der Lektüre des Originals helfen können.Hier könnt ihr Das Kapital gratis online lesen.

Sozialreform oder Revolution von Rosa Luxemburg

Auch wenn es heute kaum mehr vorstellbar ist, aber das große Ziel der SPD war tatsächlich einmal "die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln [...] in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion". Diesen Satz fand man zumindest im Erfurter Parteiprogramm von 1891. (Ein Lesetipp für alle, die sich für die Geschichte der SPD interessieren: Die deutsche Arbeiterbewegung von Axel Kuhn; Reclam 2004.)

Innerhalb der Partei stritt man jedoch darüber, wie man zu diesem Endziel gelangt. Den Streit nennt man auch Revisionismusstreit. Der gemäßigte Flügel forderte, das Endziel hintanzustellen: Wichtiger sei, durch kleine Reformen das Leben der Arbeiter*innen konkret zu verbessern. Der linke Flügel widersprach diesem Gedanken: Um das Endziel zu erreichen, brauche es sowohl Sozialreformen als auch eine sozialistische Revolution. Eine der polarisierendsten Vertreterinnen der Parteilinken: Rosa Luxemburg. In ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution verteidigt sie diese Auffassung. Innerhalb der SPD setzt sich jedoch der reformistische Flügel langfristig durch.

Warum war der Revisionismusstreit für die Studierenden 1968 relevant? Viele träumten wie Luxemburg von einer sozialistischen Revolution. Die in die politische Mitte gerutschte SPD bekämpften sie mit aller Kraft: Schließlich bildeten die Sozialdemokrat*innen zusammen mit der Union die Regierung und waren somit beteiligt an der Durchsetzung der Notstandsgesetze, die die Studierenden wiederum ablehnten.

Warum ist der Streit zwischen Revolution und Reformen immer noch interessant? Für alle, die eine menschlicheren Zukunft fordern, stellt sich die Frage, wie diese zu erreichen ist. Auch wenn es mehr Optionen gibt als Revolution oder Reformen, so ist Luxemburgs Schrift dennoch eine interessante kritische Perspektive auf die SPD-Politik. Und das gerade zu einer Zeit, in der die Sozialdemokrat*innen zunehmend in die Bedeutungslosigkeit abdriften.Hier könnt ihr Sozialreform oder Revolution gratis online lesen.

Minima Moralia von Theodor W. Adorno

Mit Adorno sind wir nun bei der Frankfurter Schule angekommen, deren Vertreter die sogenannte Kritische Theorie begründeten, die wiederum an die Lehren Marx' anknüpft. Während Berlin das aktionistische Zentrum der 68er-Bewegung war, war Frankfurt und das sich dort befindliche Institut für Sozialforschung das intellektuelle Zentrum der Bewegung.

Die Erfahrung des Nationalsozialismus und der Shoah waren für die Kritische Theorie prägend. Alle Vertreter der Frankfurter Schule verließen während des Naziregimes das Land, die meisten lebten in den USA im Exil und kehrten erst nach dem Krieg teilweise zurück. Die Minima Moralia handelt von den Bedingungen des Menschsein im Kapitalismus, der für Adorno untrennbar mit dem Faschismus verbunden ist.

"Jeder Zeile ist das Entsetzen über das 20. Jahrhundert anzumerken", liest man in der Welt. "Adorno denkt mit, gegen und über die Leichenberge und noch mehr gegen die Gleichgültigkeit, mit der diese von Sachzwängen diktiert zu den Akten gelegt wurden. Eine verwaltete Welt, in der alles Ware geworden ist, in der Konsum mit Leben verwechselt wird und in der die Komplexität zur Erhaltung des Status quo so umfassend geworden ist, dass sie alles diktiert."

Der meist zitierteste Satz Adornos lautet: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Damit meint der Autor jedoch nicht, dass eh alles egal ist. Im Gegenteil: Man soll stets bemüht sein, so zu leben, "wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen […]. Die wichtigste Form, die das heute hat, ist der Widerstand."

Und genau diesen Gedanken fühlten die Studierenden der 68er-Bewegung. Einer der führenden Köpfe der Bewegung, Hans-Jürgen Krahl, schrieb über Adorno: "Es gibt in der Erfahrung der Adornoschen Theorie [...] etwas, das man als eine sehr widersprüchliche Wirkung von Ohnmacht auf die Studentenbewegung erklären könnte. Also auf der einen Seite hat Adorno etwas vermittelt, das für die Studentenbewegung dann geradezu umgekehrt nicht resignations- sondern aktionskonstitutiv war: Eine Ohnmachtserfahrung gegenüber der technologisierten und bürokratischen Institutionen und Administrationen der spätkapitalistischen Welt."

Für viele Studierende der 68er-Bewegung war die Minima Moralia wie eine Art Einstiegsdroge. Kritik und Theorie verschmelzen zu einem literarischen Erlebnis. Das Buch ist in kurzen Aphorismen und Essays geschrieben, die nicht aufeinander aufbauen. Man kann es an beliebiger Stelle aufschlagen und lesen.

Der eindimensionale Mensch von Herbert Marcuse

Von allen Vertretern der Frankfurter Schule war Herbert Marcuse derjenige, der von den Studierenden 1968 am meisten gefeiert wurde. Der 1898 in Berlin geborene Marcuse trat nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburg aus der SPD aus, 1933 emigrierte er zunächst in die Schweiz und später in die USA.

In seinem bekanntesten Buch Der eindimensionale Mensch beschreibt Marcuse eine Gesellschaft ohne Opposition. Stellen wir uns eine Gesellschaft in einem Glashaus vor. Innerhalb dieses Glashauses wird der Mensch von Medien, Politik und Wirtschaft eingelullt und zufriedengestellt. Dabei ist die Konsumwelt nichts als getarnte Sklaverei. Es ist dem Menschen nicht möglich, zu erkennen, dass er in einem gläsernen Gefängnis sitzt und dass eine Welt ohne den Zwang der entfremdeten Arbeit längst möglich ist. Innerhalb dieses System kann es eben keine Opposition geben, die einen wirklichen Wandel herbeiführt.

Am Ende des Buches beschreibt er den ersten Schritt, der notwendig wäre, um mit der sich ständig reproduzierenden Gesellschaft zu brechen: die große Weigerung. Darunter versteht Marcuse das Individuum, das sich nicht nur als kleines Rädchen innerhalb des gesellschaftlichen Getriebes einfügen will, sondern das kapitalistische System samt Konkurrenzkampf und Dauerkonsum theoretisch negiert.

Für die 68er-Bewegung, deren Stärke ohnehin in der Kritik des Bestehenden und nicht so sehr im Aufzeigen positiver Alternativen lag, wurde die große Weigerung zum Lebensprinzip. Warum ist Marcuses Der eindimensionale Mensch heute noch lesenswert? Schauen wir uns die westliche kapitalistische Welt im Jahr 2018 an: Gibt es eine nennenswerte Opposition gegen das bestehende System? Gibt es eine Bewegung, die eine Vision einer humaner organisierten Welt zeichnet? Nein, gibt es nicht.

Im Gegenteil, seit den 60er Jahren sind die Einlullungsmechanismen von Staat, Medien und Wirtschaft besser geworden: Wir fühlen uns freier denn je, können wir doch nach dem Abi ein Jahr Work and Travel in Australien machen, um dann irgendwas mit Medien in einem urbanen Mekka à la Berlin zu studieren. Dem westlichen Individuum geht es besser denn je, auch wenn sich die Ungleichheit auf einem ähnlichen Stand wie vor dem ersten Weltkrieg befindet und unser fröhlicher Dauerkonsum auf Kosten eines großen Teils der restlichen Welt gelebt wird. Alle, die das gefängnisartige Glashaus verstehen wollen, sollten Marcuse lesen.

Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir

Auch die Frauenbewegung hat ihre Wurzeln in den Studierendenprotesten um 1968 herum. Öffentliche BH-Verbrennungen als Zeichen gegen die patriarchale Unterdrückung standen auf der Tagesordnung. Die jungen Frauen forderten unter anderem die Freigabe der Pille, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und das Ende der männlichen Vorherrschaft. Dabei hatten sie oft gegen patricharchale Strukturen innerhalb ihrer eigenen Bewegung zu kämpfen: Auch unter den vorgeblich antiautoritären Studierenden fand man häufig machohaftes Verhalten und männliche Machtstrukturen.

Eine der intellektuellen Leuchtfiguren der Frauenbewegung war und ist die französische Philosophin Simone de Beauvoir. In Das andere Geschlecht zeigt sie die gesellschaftlichen Mechanismen auf, durch die Frauen in der Abhängigkeit von Männern gehalten wurden. Einer der meistzitiertesten Sätze des Buches lautet: "Man ist nicht als Frau geboren, man wird es." Beauvoir meint damit, dass Frauen von der patriarchalen Gesellschaft erst zur Frau gemacht werden. Während sich der Mann als das Absolute, das Essenzielle, das Subjekt setzt, wird der Frau die Rolle der anderen, des Objekts zugewiesen.

Warum Das andere Geschlecht heute noch lesen? Klar, in Sachen Frauenrechte und der gesellschaftlichen Stellung von Frauen allgemein hat sich seit den 60er Jahren einiges zum besseren gewandelt. Doch wer der Meinung ist, im Jahr 2018 sei die Gleichberechtigung von Mann und Frau vollkommen erreicht, hat schlichtweg unrecht. Um nur einige Stichwörter zu nennen: Schwangerschaftsabbrüche, wichtige Voraussetzung für die körperlichen Selbstbestimmung der Frau, sind in Deutschland immer noch illegal. Frauen verdienen bei gleicher Tätigkeit häufig weniger als ihre männlichen Kollegen. Und in den USA regiert ein Toupet, das sexuelle Belästigung von Frauen okay findet.

Schwarze Haut, weiße Masken von Frantz Fanon

Die 68er-Bewegung solidarisierte sich stark mit der Dritten Welt. Führende Köpfe wie Rudi Dutschke glaubten, dass jede radikale Opposition global sein müsse und die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt die westlichen "imperialistischen Machtzentren" schwächen würden. Der Protest gegen den von den USA geführten Vietnamkrieg und die Unterstützung des Dekolonisationsprozesses gehörten zur DNA der 68er-Bewegung.

Frantz Fanon ist einer der wichtigsten Autor*innen der antikolonialen Linken. Fanon wurde 1925 auf der von Frankreich kolonial beherrschten Karibikinsel Martinique geboren, meldete sich 1944 freiwillig zur französischen Armee, um gegen das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, und musste erleben, dass er als schwarzer Soldat von den weißen Franzosen diskriminiert wurde.

Schwarze Haut, weiße Masken ist ein Essay, in dem Fanon die Entfremdung der Kolonialisierten beschreibt, die weiße Masken tragen müssen, um in einer von Weißen dominierten Welt ernst genommen zu werden. Einer der wichtigsten Sätze des Buches: "Eine Gesellschaft ist entweder rassistisch oder nicht." Darüber zu feilschen, warum eine Gesellschaft heute beispielsweise weniger rassistisch sei als noch vor ein paar Jahrzehnten, ist für ihn Unfug – rassistisch bleibt rassistisch, bleibt unmenschlich. Er fordert ein Ende von Rassismus und kolonialer Unterdrückung. Beides ist für ihn nur erreichbar, indem die Betroffenen beginnen, aktiv zu werden und bewusst gegen die Quelle des Problems, nämlich die sozialen Strukturen, vorzugehen.

Warum soll man Schwarze Haut, weiße Masken heute noch lesen? Nur weil wir heute in einer formal dekolonialisierten Welt leben, bedeutet das nicht, dass Unterdrückungsmechanismen und Rassismus aus ihr verschwunden sind. Alle, die sich mit den psychologischen und strukturellen Mechanismen von Rassismus auseinandersetzen wollen, finden in Schwarze Haut, weiße Masken eine aufschlussreiche Analyse.

Die hier genannten Werke sind nur ein kleiner Teil dessen, was die Studierenden 1968 gelesen haben. Angefangen bei russischen Denkern wie Leo Trotzki oder dem Anarchisten Michael Bakunin, über deutsche Sozialdemokrat*innen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und Autoren der Frankfurter Schule, bis zu französischen Marxist*innen wie Jean-Paul Sartre: Wenige Generationen waren so von der Auseinandersetzung mit kritischer Theorie beschäftigt wie die 68er.

Für alle, die weiterlesen wollen, sei das Buch 1968 – Eine Enzyklopädie (suhrkamp edition; 2004) empfohlen. In einer 1966 gedruckten Broschüre veröffentlichte Rudi Dutschke außerdem eine "Ausgewählte und kommentierte Bibliographie des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart". Folgende Werke schafften es in seine Leseliste (Bild anklicken, um es größer zu sehen):