Solltest du unter 30 Jahre alt sein, ist die Wahrscheinlichkeit, dass du Mitglied einer Gewerkschaft bist, eher niedrig. Nur zwölf Prozent von uns sind laut Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft gewerkschaftlich organisiert. Wer kann es uns verübeln? Wir sind die Generation Praktikum. Wir sind die Generation, die es gewohnt ist, sich von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag zu hangeln. Wir arbeiten in Teilzeit, in Zeitarbeitsverhältnissen, hatten fast alle schon einmal einen Minijob.

Wir arbeiten immer seltener in Bereichen, in denen Arbeitnehmer*innen in hohem Maße gewerkschaftlich organisiert sind, dem Kohleabbau oder der Stahl- und Eisenindustrie zum Beispiel. Uns findet man immer häufiger im Dienstleistungssektor und in kleineren Betrieben mit weniger als 50 Mitarbeiter*innen.

Die Wirtschaft hat sich verändert. Und da sich die Gewerkschaften nicht schnell genug an die Veränderungen angepasst haben, haben sie seit den 90er-Jahren enorm an Mitgliedern verloren, so das Institut der deutschen Wirtschaft (PDF). Dabei sind Gewerkschaften eine der besten Erfindungen der jüngeren Geschichte. Eine Mitgliedschaft lohnt sich, auch wenn es in deinem Unternehmen keinen Betriebsrat gibt oder außer dir niemand sonst Mitglied einer Gewerkschaft ist. Eine Mitgliedschaft lohnt sich, egal ob du studierst und nebenher jobbst, in einem fancy Loft-Office eines Start-ups arbeitest oder eine Ausbildung zum Bankkaufmensch machst.

An wen wendest du dich, wenn du Probleme im Job hast?

Gewerkschaften sind für den Bereich der Arbeit das, was Mieterschutzbünde für den Bereich Wohnen sind. Wenn dein*e Vermieter*in die Miete erhöht und du nicht weißt, ob er*sie das darf, gehst du zu einem Mieterschutzbund, um dich beraten zu lassen. Wenn dein*e Arbeitgeber*in dich aus deiner Sicht unfair behandelt und du nicht weißt, ob er*sie das darf oder was du dagegen tun kannst, kannst du dich bei einer Gewerkschaft beraten lassen. Die großen Gewerkschaften bieten für ihre Mitglieder kostenfreien Rechtsschutz. Der hilft bei juristischen Auseinandersetzungen im Job.

Darüber hinaus bieten die meisten Gewerkschaften Fort- und Weiterbildungen und Seminare zu gesellschaftspolitischen Themen an. Von "Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie" über "Wirksam mitbestimmen bei der Dienstplanung" bis hin zu "Falschmeldungen und Propaganda in Zeiten digitaler Medien" ist alles dabei. Solltest du mit Kolleg*innen darüber nachdenken, in deinem Unternehmen einen Betriebsrat zu gründen, steht euch auch jede Gewerkschaft mit Rat und Tat zur Seite. Es gibt extra Seminare, in denen künftige Betriebsrät*innen geschult werden.

Ein solidarischer Akt

Aber die Gewerkschaften kämpfen für mehr als deinen persönlichen Arbeitsplatz: Sie kämpfen für eine gerechtere Politik. Die Einzelgewerkschaften organisieren sich in Dachverbänden. Allein der größte davon hat über sechs Millionen Mitglieder in Deutschland. Und das bedeutet: Macht. Die großen Gewerkschaften nehmen Einfluss auf Gesetze und Parteiprogramme. Sie versuchen, allgemeine Interessen der Arbeitnehmer*innen durchzusetzen. Jede Mitgliedschaft stärkt die Macht der Gewerkschaften und damit die Stimme der Arbeitnehmer*innen.

Insofern ist die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft auch ein Akt der Solidarität. Es geht nicht nur um deine individuellen Vorteile, sondern einen gesellschaftlichen Prozess. Selbst wenn dein Arbeitsverhältnis top ist, setzt du dich mit deinem Gewerkschaftsbeitrag dafür ein, dass auch die Bedürfnisse von Menschen in schlechteren Situationen gehört werden.

100 Jahre Betriebsrätegesetz

2020 bietet einen historischen Anlass, einer Gewerkschaft beizutreten: Vor hundert Jahren brachte die SPD das Betriebsrätegesetz auf den Weg. Es verpflichtete Betriebe ab einer Größe von zwanzig Beschäftigten dazu, Betriebsräte wählen zu lassen. Es war das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass die Mitbestimmung von Arbeitnehmer*innen in Betrieben rechtlich verankert wurde.

Damals und heute sind die meisten Betriebsrät*innen in Gewerkschaften organisiert – diese sind indes weit älter als das Betriebsrätegesetz. Während der deutschen Revolution 1848/1849 entstanden die ersten Gewerkschaften im heutigen Sinne. Die Arbeitsbedingungen waren im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts natürlich nicht mit den heutigen vergleichbar. Mitte des 19. Jahrhunderts betrug die Arbeitszeit für deutsche Fabrikarbeitende im besten Fall zwölf Stunden pro Tag – und das sechs Tage die Woche. Gesetzlichen und bezahlten Urlaub gab es nicht. Erst 1903 wurde Arbeit für Kinder unter zwölf Jahren verboten. In den Fabriken fehlten oft Toiletten und Waschbecken, die Luft war stickig, das Licht zu dunkel. Arbeitsunfälle gehörten zur Tagesordnung.

Es ist eine der größten Errungenschaften von Betriebsrät*innen, Gewerkschaften und auch der Sozialdemokratie, dass die Arbeitsbedingungen in Deutschland heute, hundert Jahre später, vergleichsweise um Lichtjahre besser sind. Trotzdem bleibt noch einiges zu tun. Laut dem Armutsbericht 2018 des Paritätischen Wohlfahrtsverbands sind in Deutschland fast 14 Millionen Menschen arm. Der größte Teil dieser Menschen arbeitet, befindet sich in einer Ausbildung oder ist in Rente. Unter den sogenannten working poor sind viele von befristeten Verträgen oder Leiharbeitsverhältnissen betroffen. Fast die Hälfte arbeitet in Vollzeit und verdient trotzdem zu wenig. All das sind Missstände, für deren Beseitigung es sich zu kämpfen lohnt – zum Beispiel als Teil einer Gewerkschaft.