Normalerweise geht es in den Youtube-Videos von Hannah Witton um Sex, Beziehungen und Feminismus. Doch seit Anfang des Jahres ist auch ein weiteres Thema sehr präsent auf ihrem Kanal: ihr Stoma, ein künstlicher Darmausgang. Witton leidet an Colitis Ulcerosa, einer Krankheit, die genau wie Morbus Crohn zu den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen gehört. Das Immunsystem greift dabei den Darm an, sodass die Betroffenen immer wieder an blutigen Durchfällen und Bauchschmerzen leiden. Bei manchen treten die Symptome durchgängig auf, bei anderen verläuft die Krankheit in Schüben und lässt sich in den Phasen dazwischen mit den richtigen Medikamenten so einstellen, dass die Betroffenen uneingeschränkt ihren Alltag leben können. So war es auch bei Witton. Erst im Sommer des letzten Jahres verkündete sie in einem Video: "Ich schätze mich ziemlich glücklich, weil ich seit zehn Jahren keinen ernsthaften Schub mehr hatte."

Kein halbes Jahr später muss sie für einen Monat ins Krankenhaus. Die Krankheit ist am Ende so aggressiv, dass ihr der Dickdarm entnommen wird. Kurz darauf postet sie ihr erstes dickdarmloses Foto aus dem Krankenhaus. "Ich habe keinen Dickdarm mehr – auf Nimmerwiedersehen!" schreibt sie dazu.

Leben ohne Dickdarm

Wem aufgrund einer Krankheit Teile der Verdauungsorgane entfernt werden müssen, bekommt ein Stoma. So ein künstlicher Darmausgang befindet sich etwas unterhalb des Bauchnabels und sieht von außen aus wie eine große Erdbeere. Über dem Stoma wird ein Beutel befestigt, in den dann die Ausscheidungen gelangen. Oder, um es mit den Worten von Hannah Witton zu sagen: "Ich kacke jetzt in einen Beutel."

So ein Stoma kann Leben retten. Die meisten Menschen müssen sich mit dem Thema allerdings erst beschäftigen, wenn sie 40 oder älter sind. Witton ist 26. Dass die Anzahl der Stomaträger*innen mit zunehmendem Alter stark wächst, liegt vor allem daran, dass mehr ältere Menschen von Darmkrebs betroffen sind.

Nur etwa vier Prozent der 160.000 deutschen Stomapatient*innen sind unter 40. Doch gerade für junge Menschen mit Stoma ist es wichtig, sich nicht allein zu fühlen. Selbstfindung und Dating werden nicht unbedingt einfacher, wenn man mit einem Stomabeutel am Bauch herumläuft.

Dating mit Beutel

Jana, 22, ist gerade frisch verliebt. Sie hat den Typen auf einer Party kennengelernt. "Ich war geschminkt. Man hat also nicht gesehen, dass ich krank bin, nur dass ich keine Haare habe. Aber das könnte auch einfach ein Statement sein." Schon auf der Party erzählten sie sich viel voneinander, Jana sprach auch über ihre Krankheit und vergangene Operationen. Sie hat, genau wie Witton, Colitis Ulcerosa. Ihr Stoma trägt sie seit November, allerdings nur übergangsweise. Im Juli wird sie wieder operiert und bekommt ein Pouch, eine Art künstlichen Dickdarm, eingesetzt. Das ist einer der Gründe, weshalb Jana eigentlich gar nicht eingeplant hatte, in ihrer Zeit mit Stoma jemanden kennenzulernen. "Ich dachte mir, bis zum Sommer ist es eh wieder weg und so lange hast du einfach nichts mit jemandem."

Ganz so einfach war das allerdings nicht. Sie versteht sich gut mit dem Mann von der Party, die beiden flirten und erzählen sich von ihrem Leben. "Das Stoma habe ich aber komplett ausgelassen. Eigentlich bin ich sehr selbstbewusst, aber in der Situation war ich plötzlich unsicher. Man weiß leider nie, wie die Leute reagieren." Normalerweise hat Jana kein Problem damit, über ihr Stoma zu sprechen. Bei Sexualpartnern sei das allerdings etwas anderes. Also ihm lieber gar nicht davon erzählen? Das wollte sie auch nicht. "Wenn man mit jemandem Sex hat, muss sich die andere Person ja auch darauf einstellen können."

Über Stuhlgang spricht man nicht

Beim ersten Date über Stuhlgang zu sprechen, war nicht unbedingt das, was Jana sich erträumt hatte. Verständlich, in einer Welt, in der Frauenmagazine Tipps dazu geben, wie man es schafft, unbemerkt im Haus eines Mannes zu kacken. Auch wenn Darm mit Charme seit Ewigkeiten auf den Bestseller-Listen steht, ist es für viele Menschen immer noch unvorstellbar, jemandem ehrlich zu sagen, dass sie zu einem Treffen nicht kommen können, weil sie Durchfall haben. Kacke, das privateste Thema der Welt. Aber als Stomaträger*in lässt sich schwer erklären, was für ein Beutel einem da am Bauch klebt, ohne über Stuhlgang zu sprechen. Janas Flirt ist glücklicherweise sehr gut damit umgegangen. "Ihm sind erstmal haufenweise Witze dazu eingefallen. Dadurch wurde es schnell wieder locker."

Das erste Mal Sex mit Stoma war für sie allerdings schon komisch. Nicht etwa, weil es eine unangenehme Reaktion von dem Mann gab: "Ich glaube, er hat es gar nicht richtig mitbekommen. Aber für mich war es schon eine Einschränkung – vor allem im Kopf." In einer Gesellschaft, in der auch junge Menschen, die körperlich gesund sind, ihr Äußeres ständig in Frage stellen, widerspricht ein Stomabeutel jeglicher Norm. Glücklicherweise machen Plattformen wie Instagram und Bewegungen wie Body Positivity langsam auch all die Arten von Schönheit sichtbar, die sich jenseits von gesunden, dünnen, weißen Cis-Menschen bewegt.

Auch Hannah Witton hat angefangen, Bilder von ihrem Körper mit Narben und Stomabeutel zu zeigen. "Ich dachte mir, ich dokumentiere mal, wie mein Körper jetzt aussieht. Er ist anders, aber ich liebe ihn immer noch und bin stolz darauf, was er alles durchgemacht hat." Auch Maxi, 22, folgt Instagram-Accounts und Blogs, auf denen Menschen sich selbstbewusst mit Stoma zeigen. Sie selbst wird nächste Woche operiert. "Im Moment bin ich sehr aufgeregt. Schlafen klappt nicht mehr so gut", sagt sie.

Maxi hat Familiäre Adenomatöse Polyposis, kurz FAP genannt – eine seltene Krankheit, bei der sich Polypen im Dickdarm bilden. FAP entwickelt sich in fast 100 Prozent aller Fälle zu Darmkrebs. Ein Stoma ist für Maxi deshalb lebensrettend. 2009 hatte sie bereits für mehrere Monate einen Stomabeutel, allerdings nur für die Zeit zwischen zwei Operationen. Der nächste wird vermutlich für immer bleiben. "Mit 13 war es für mich viel einfacher, weil ich wusste, dass das Stoma nur vorübergehend bleibt. Jetzt ist das anders." Darum versucht Maxi, sich mit ihrem Stoma anzufreunden – und das nicht nur in Gedanken: "Ich versuche, es nicht nur als Ding zu sehen, sondern habe ihr sogar schon einen Namen gegeben. Mein Stoma wird eine Elsa, die ihren eigenen Kopf hat und auch mal Stress macht. So wie ich."

Wenig Verständnis von Arbeitgeber*innen

Die Menschen, die online zu ihrer Krankheit stehen, findet sie großartig, vor allem aufgrund der Aufklärung, die dadurch erfolgt. Sie hatte schon oft mit unangenehmen Reaktionen und Unverständnis zu kämpfen: "Nur weil man jung ist, heißt das doch nicht gleich, dass man gesund ist. Es sind nicht nur Rentner, die krank sind." Wer nach außen fit wirkt, von dem*der verlangt die Gesellschaft auch, dass er*sie durchgängig abliefert, gut gelaunt ist und sich nicht beschwert. Zusätzlich fühlen sich viele Menschen unwohl, wenn sie sich in Gesprächen mit Themen wie Krankheiten oder Tod auseinandersetzen müssen. Das wird zur Belastung derjenigen, denen es schlecht geht. Jana sieht das ähnlich. "Es gibt Tage, die sind einfach kacke. Da helfen dann keine 'Shit happens'-Witze oder Ratschläge von Menschen, die selbst völlig gesund sind. Wenn du chronisch krank bist, kannst du es dir nicht leisten, jeden Tag so zu tun, als wärst du gesund. Das macht dich einfach kaputt." Gerade von Arbeitgeber*innen hat sie in der Vergangenheit wenig Verständnis erfahren.

Wer selber nicht krank ist, kann einfach nicht nachvollziehen, wie es einem wirklich geht.
Jana

Unter dieser psychischen Belastung leiden Betroffene genauso wie unter den körperlichen Symptomen. Mehr als ein Drittel der Menschen mit Morbus Crohn hat Depressionen. Darum ist es wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, sich mit anderen auszutauschen, die das eigene Leid nachvollziehen können. Jana ist mit vielen Menschen in Kontakt, die auch an chronischen Krankheiten leiden. "Man merkt, dass man mit solchen Menschen einfach gut über Probleme reden kann. Es ist schwierig, Menschen zu finden, mit denen das geht. Wer selber nicht krank ist, kann einfach nicht nachvollziehen, wie es einem wirklich geht. Für sowas ist das Internet genial. Ich kann mit allen Menschen auf der ganzen Welt schreiben und merke so, dass ich nicht alleine bin."

Darum lohnt es, über Menschen wie Hannah Witton zu sprechen. Diejenigen, die mit ihren Erkrankungen offen umgehen, normalisieren dadurch lebensrettende Hilfsmittel wie Stomabeutel, zeigen die Diversität von Schönheit und klären diejenigen, die nicht selbst betroffen sind, auf. Witton selbst gibt auf ihrem Twitter-Account immer wieder Updates darüber, wie sie ihren neuen Alltag meistert. Auch sie hat damit zu kämpfen, dass man ihr von außen nicht unbedingt ansieht, wie es ihr geht und dass sie sich gerade von einer Operation erholt. Darum hat sie einen Gehstock. "Das Ding wird hoffentlich dabei helfen, dass Menschen geduldiger mit mir sind und mir ihren Platz in der Bahn geben."